Thomas Barth:  Das Inverse Panoptikum

Vorschlag für einen Vortrag zum Chaos Communication Congress 2012 (Hamburg)

Zur Person: Diplom-Kriminologe, Diplom-Psychologe, Medienwissenschaftler (Arbeitsgebiete: Netzkultur, Medienpolitik, Korruption)

Kurzbeschreibung:

In den Jahren 1990-1992 entwickelte ich mit den Teilnehmern von Workshops und Diskussionen dreier Chaos Congresse in Hamburg Ideen zu einem Utopiemodell für die künftige Netzkultur. Dabei kamen Hackerethik, Visionen des Cyberpunk und Theorien der Sozialphilosophie zusammen, vor allem Michel Foucault und Günther Anders. Ergebnis war der Begriff eines "Inversen Panoptikums". Wie ist dieses Modell begründet? In welchen Momenten, Ereignissen und Bewegungen der Netzkultur finden sich heute Elemente des Inversen Panoptikums?

Beschreibung:

In den Jahren 1990-1992 entwickelte ich mit den Teilnehmern von Workshops und Diskussionen dreier Chaos Congresse in Hamburg Ideen zu einem Utopiemodell für die künftige Netzkultur. Dabei kamen Hackerethik, Visionen des Cyberpunk und Theorien der Sozialphilosophie zusammen, vor allem Michel Foucault und Günther Anders. Ergebnis war der Begriff eines "Inversen Panoptikums".
Hintergrund: Ursprünglich bezeichnete "panopticon" jedoch eine spezielle Gefängnisarchitektur Jeremy Benthams, des Begründers des Utilitarismus. Benthams architektonische Erfindung besteht aus einem Rundbau, welcher durch einen Beobachtungsturm im Zentrum die nach innen hin einsehbaren Zellen der permanenten Überwachung aussetzt. Die Gefangenen des Panoptikums sehen den Wächter nicht, sind aber ständig einer potentiellen Überwachung ausgesetzt, die ein andauernd diszipliniertes Verhalten erzwingen soll. Diese Konstruktion erinnert nicht zufällig an George Orwells Dystopie vom totalen Überwachungsstaat.
Michel Foucaults 1977 präsentierte Analyse der Disziplinargesellschaft sieht im Panoptikum den Kern des utilitaristisch-demokratischen Gesellschaftsmodells und betrachtet es gleichzeitig als Metapher der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger als die konkrete architektonische Umsetzung erscheint Foucault die Idee des Panoptismus, die in den verschiedensten Bereichen (Schulen, Hospitälern, Fabriken) in der einen oder anderen Form Fuß fassen konnte: Die disziplinierende Beobachtung vieler durch wenige (Schüler durch Lehrer, Arbeiter durch Vorarbeiter, Bürger durch Verwaltungsbeamte), die schon der sozialen Grundstruktur eingeschrieben ist.
Das "inverse Panoptikum" könnte man als unbewusste Reflexion des disziplinierenden Panoptikums interpretieren. Es impliziert eine Umkehr der kontrollierenden Blickrichtung und damit eine Lockerung der Zentralmacht über die Peripherie. Es spiegelt sich in der Forderung nach Datenschutz für den einzelnen Menschen, aber Transparenz für die Machteliten: "Wir fordern die maschinenlesbare Regierung" (Andy, CCC) ...statt des gläsernen Menschen.
In der aktuellen Netzkultur sind neben dem CCC auch Netzprojekte wie WikiLeaks und Arbeiten aus der Kunst wie die Konspirogramme von Lombardi Ansätze zu einem Inversen Panoptismus: Sie kehren die Blickrichtung der Macht um.

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Cyberspace, Neoliberalismus und inverser Panoptismus

Thomas Barth in TELEPOLIS  03.07.1997

Das politische Unbewußte der Cyberdemocracy

...auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.

Franz Kafka, Amerika

Die "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" geht an der Frage der Konstituierung des Subjekts in der modernen Gesellschaft vorbei, die sich im Begriff des Panoptikums konzentriert. Ein informationstechnisch zu realisierendes "inverses Panoptikum", eine gläserne Bürokratie, wäre mit der Entwicklung einer Ethik zu verbinden, die auf die künftigen Bedürfnisse des Menschen in der Informationsgesellschaft hin zugeschnitten werden sollte.

$-Lib im Cyberspace?

John Perry Barlow verfasste im Februar 1996 als Reaktion auf Zensurbestrebungen durch den "Telecommunication Reform Act" der US-Bundesregierung eine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, die heute zu den am meisten im Internet zirkulierenden Dateien gehören soll. Seine Kritiker Geert Lovink und Pit Schultz sprechen im Anti-Barlow von "plumper Rhetorik"; dies stimmt aus europäischer, nicht jedoch aus US-amerikanischer Sicht. Der Massenerfolg, den der nicht besonders einfallsreiche SF-Kinofilm "Independence Day" erzielte, zeigt, daß Barlow einen Nervenknoten des "gesunden Volksempfindens" der US-Amerikaner getroffen hat. Barlow orientierte sich am Gründungsdokument der USA, was natürlich nicht bei jedem patriotische Gefühle wecken kann. Die Barlow-Kritiker Barbrook und Cameron verweisen in ihrer Kalifornischen Ideologie zu Recht auch auf die Tradition der Sklaverei in den USA.

Kritik an Barlow soll keineswegs bedeuten, die Zensurpolitik Clintons zu billigen. Die Maßnahmen wirken ohnehin für europäische Ohren unverständlich: Warum sollten die mächtigen USA ausgerechnet durch die Verwendung des Wortes "Motherfucker" (und sechs weiterer Obszönitäten) gefährdet sein? Man könnte hier einen tief verwurzelten Ödipuskomplex vermuten, der orthodoxen Freudianern gute Geschäfte verspricht. Barlows Plädoyer für freie Meinungsäußerung weckt keine Kritik, vielmehr ist es seine totale Blindheit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, die nur als Naivität oder Zynismus gedeutet werden kann. Florian Rötzer weist daraufhin, daß diese Blindheit heute als Teil des sogenannten "Neoliberalismus" zur dominierende Ideologie der Marktwirtschaften zu werden droht.

Man könnte diesen Rückgriff auf traditionelle Ideen der Aufklärung vielleicht treffender als $-Lib bezeichnen, da sie Freiheit auf die Freiheit des Dollars oder seiner Besitzer reduziert. Bereits Ende der 70er Jahre wies der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard auf eine aus der IuK-Technologie und deren Folge, der Kommerzialisierung des Wissens, abzuleitende Tendenz zur Deregulierung hin. Der Staat würde einer "Ideologie kommunikativer Transparenz" als ein Faktor des "Rauschens" erscheinen, was sich heute in der neoliberalen Forderung nach Deregulierung als Argumentation gegen staatliche Ineffizienz wiederfinden läßt. Die von Barlow vertretene "kalifornische Ideologie" einer angenommenen "virtuellen Klasse" mittlerweile gutsituierter Ex-Hippies soll sozusagen den progressiven Flügel dieser $-Lib-Ideologie darstellen. Man möchte den Staat abschaffen - bis auf genau jene Funktionen, die die eigenen Privilegien (Eigentum, Informationszugang) schützen, ihn zum Nachtwächterstaat degenerieren. Alles andere wird als "ineffizient" verdammt, da Geld dem $-Lib das Maß aller Dinge ist. Menschliches Leid interessiert nur insoweit als sich aus ihm Profit schlagen läßt (Privatisierung sozialer Dienste, vgl. Fritz Sack) oder es sich als Kostenfaktor erweist (z.B. als Kriminalität).

Die Naivität der "Kalifornischen Ideologie" zeigt sich in Barlows Zustandsbeschreibung des Cyberspace: "Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht oder Herkunft." Diese negative Aufzählung liest sich eher wie ein Who-is-who des Cyberspace, des Raumes der Weißen, der Reichen, der Militärs und (aus anderen Kreisen bestenfalls) der Wohlgeborenen. Diese Kluft zwischen elitärer Sache und völkischem Pathos reizte die Widersacher Barlows so sehr, daß andere kritische Fragen gar nicht gestellt werden konnten. Etwa die Frage, nach dem Datenschutz und die Frage, ob der jetzige Cyberspace des Internet wirklich so demokratisch und unabhängig von Tyrannei ist, wie Barlow meint. Marc Gisor bemerkt, daß viele scheinbar demokratische Prozeduren im Internet, etwa das Einrichten von Usegroups, eher einer feudalistischen Dramaturgie folgen, daß Netz-Gurus (wie z.B. Barlow), Organisationsleader und führende Techniker die Rolle lokaler Burgherren in bestimmten Regionen der Wissensgeografie einnehmen. Barlow hinterfragt nicht die Herkunft des Cyberspace und die ihm möglicherweise innewohnenden Tücken.

Subjekt und Panoptismus

Eine europäische Aufgabe bei der Diskussion des Cyberspace könnte es deshalb sein, daran zu erinnern, daß unsere westliche Kultur neben den Menschenrechten auch ein effektives System der Disziplinierung des Menschen hervorgebracht hat, dessen Kernidee der französische Philosoph Michel Foucault in der sozialen Maschine des Panoptikums lokalisierte. Eine Reflektion der Problematik sollte zunächst den Zusammenhang dieses Panoptikums mit den von Barlow vertretenen Idealen diskutieren, um sein "politisches Unbewußtes" aufzudecken sowie die daraus resultierenden Probleme aufzuzeigen.

Trifft der deutschsprachige Leser auf das Wort Panoptikum, so denkt er an ein Wachsfigurenkabinett. Ursprünglich bezeichnete "panopticon" jedoch eine spezielle Gefängnisarchitektur Jeremy Benthams, des Begründers des Utilitarismus. Benthams architektonische Erfindung besteht aus einem Rundbau, welcher durch einen Beobachtungsturm im Zentrum die nach innen hin einsehbaren Zellen der permanenten Überwachung aussetzt. Die Gefangenen des Panoptikums sehen den Wächter nicht, sind aber ständig einer potentiellen Überwachung ausgesetzt, die ein andauernd diszipliniertes Verhalten erzwingen soll. Diese Konstruktion erinnert nicht zufällig an George Orwells Dystopie vom totalen Überwachungsstaat. Der Orwellsche "Televisor" wirkt heute freilich, angesichts von Internet- und Sensortechnik, nicht weniger anachronistisch als das von Bentham empfohlene Lauschröhrensystem zum Abhören der Zellen.

Michel Foucaults 1977 präsentierte Analyse der Disziplinargesellschaft sieht im Panoptikum den Kern des utilitaristisch-demokratischen Gesellschaftsmodells und betrachtet es gleichzeitig als Metapher der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger als die konkrete architektonische Umsetzung erscheint Foucault die Idee des Panoptismus, die in den verschiedensten Bereichen (Schulen, Hospitälern, Fabriken) in der einen oder anderen Form Fuß fassen konnte: Die disziplinierende Beobachtung vieler durch wenige (Schüler durch Lehrer, Arbeiter durch Vorarbeiter, Bürger durch Verwaltungsbeamte), die schon der sozialen Grundstruktur eingeschrieben ist. Bentham ging es einerseits darum, eine vollkommene Disziplinarinstitution zu entwerfen, aber andererseits auch um eine Methode, die Disziplinen vielseitig und diffus verteilt in der ganzen Gesellschaft wirken zu lassen. Die in dieser Erfindung und ihren sozialen Ausformulierungen disziplinierten Individuen bilden die Basis für die modernen Massendemokratien.

An der Wiege unseres heutigen "way of life", steht die Eroberung der Gesellschaft durch soziale Maschinen im Gefolge von Benthams Panoptikon. Diese wurden benötigt, um die Individuen so zu disziplinieren, daß sie der politischen Rechte einer modernen Demokratie würdig werden konnten - in den Augen der damaligen Elite (siehe Melossi). Das utilitaristische Menschenbild Benthams lebt bis heute weiter im homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften, auf dem letztlich die $-Lib bzw. der "Neoliberalismus" basiert. Die freie, selbstorganisierende Steuerung durch das Medium Geld braucht eine zentrale Kontrollstelle, die die Strukturen aufrecht erhält, also z.B. um Falschmünzer zu verfolgen.

Foucault betrachtet den Panoptismus als allgemeines Prinzip der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts: autonom und frei in den Grenzen, die die Zentralgewalt setzt und durch ständige Kontrolle aufrecht erhält. Er zeigt damit die unmittelbare Verknüpfung der Freiheiten mit disziplinierenden Mechanismen auf, die die Begrenzung der "Zelle der Autonomie und Freiheit", die das Subjekt bewohnt, ja, aus der es letztlich als Subjekt besteht, festlegen. Konkreter: Wenn wir als Schulkind lernen müssen stillzusitzen, als Soldat zu tun, was der vorgesetzte Offizier sagt, als Patient für real zu halten, was ein Psychiater zur gesunden Wahrnehmung erklärt, dann konstituieren wir uns damit als Subjekt. Dieses Subjekt paßt in den Raum, der durch die Grenzen der Freiheit definiert wird, d.h. durch die körperliche Unversehrtheit, das Fernmeldegeheimnis, das Recht auf Privateigentum etc. Bisher scheint ein Gleichgewicht zwischen Machtmechanismen und Subjektkonstitution zu bestehen (auch wenn es nicht zum versprochenen "größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl" führt). Doch was ist, wenn sich diese Grenzen ändern? Wenn technische Möglichkeiten "dem Subjekt" neue Möglichkeitsräume eröffnen, also eigentlich das Subjekt erweitern? Oder wenn andererseits der Zentralgewalt neue Möglichkeiten der Überwachung und Disziplinierung zuwachsen - also eigentlich das Subjekt einer Neukonstituierung unterworfen wird? Das Gleichgewicht muß neu austariert werden, und das ist eine politische Fragestellung.

Progressive oder Liberale werden die Möglichkeitsräume begeistert begrüßen und Überwachung ablehnen; konservative Gemüter werden sich eher auf die Mißbrauchsmöglichkeiten konzentrieren, vor Kriminalität und Anarchie warnen und verstärkte Kontrollmechanismen fordern. Genau dies passiert derzeit in Bezug auf das Internet. In Barlows Erklärung wird der (unbewußte) Wunsch deutlich, den überwachenden Blick des Panoptikums umzukehren: Die Insassen sind es leid, in ihren Zellen dem Blick des unsichtbaren Verwalters preisgegeben zu sein. Sie fordern eine Invertierung jener Kontrolle, die sich durch technologische Entwicklungen gerade zu potenzieren droht. Barlow übersieht jedoch, daß die von diesem Mechanismus abhängige Verteilung von Macht und Wohlstand sich mit dieser Invertierung des Blickes ebenfalls verschieben könnte. Er bedenkt weder die positiven Folgen, die dies für die soziale Gerechtigkeit haben könnte (wenn etwa die gläsernen Bankkonten das Ausmaß ungerechter Steuerverteilung sichtbar machen würden), noch bedenkt er die Gegenwehr, die unter diesem Aspekt sicher viel heftiger zu erwarten ist als es der vorgeschobene, banale Zwist um die Zensur der sieben "schlimmen Worte" vermuten ließe.

"Inverses Panoptikum" versus "Super-Panoptikum"

Der kalifornische Historiker Mark Poster kam 1995 bei der Entwicklung der Theorie von einem digitalen Zweiten Medienzeitalter zu dem Schluß, Datenbanken und die in ihnen angehäuften Informationen über den Bürger seien der Grundstock eines neuen "Super-Panoptikums". Fest steht, daß Datenbanken viele Interessenten finden, und wer wäre nicht skeptisch, wenn Vertreter der Firma Siemens 1996 beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik verkünden, die technischen Mittel für die digitale Sicherheit im 21. Jahrhundert wären vorhanden? (Kruse) Doch sowohl die liberale Kritik, Datenbanken seien eine Gefahr für die bürgerliche Freiheit, als auch die soziale Kritik, sie würden die Macht zugunsten der Besitzenden verschieben, greifen zu kurz, wie Poster bemerkt. In einer neuen Ära der Befragung des Subjekts werden Datenbanken vielmehr die Subjektkonstitution verändern, indem sie es multiplizieren und dezentrieren. Wie sich dies auf uns, die "realen" Subjekte, auswirkt, und was zu tun sein könnte, ist dabei die spannendste Frage. Die allzu wörtliche Interpretation dieser Formulierungen hat sich in der erfolglosen Suche nach den psychischen Pathologien des Computers und multiplen Persönlichkeiten als Sackgasse erwiesen. Der Einfluß erfolgt vielmehr über eine politische und soziale Wandlungsprozesse der Gesellschaften.

Das "inverse Panoptikum" könnte man als unbewußte Reflexion des disziplinierenden Panoptikums interpretieren. Es impliziert eine Umkehr der kontrollierenden Blickrichtung und damit eine Lockerung der Zentralmacht über die Peripherie, wobei es jedoch gilt, dezentrale Mechanismen zur Vermeidung sozialen Unrechts zu entwickeln. Der amerikanische Freedom of Information Act kann immerhin den Weg zu einer demokratischeren Informationsgesellschaft weisen. Einen ähnlichen Weg beschreitet auch die am 4.1.1997 auf der Wartburg verkündete Online MagnaCharta. Die Unterzeichner nahmen sich das jüngst verabschiedete Telekommunikationsgesetz der Bundesregierung sowie einige Zensurmaßnahmen deutscher Provenienz im Internet zum Anlaß, für die Freiheitrechte des elektronischen Kommunizierens einzutreten. Der Cyberspace wird auch hier dem Territorium eines internationalen Weltstaates gleichgesetzt, in dem andere Freiheitsrechte gelten als in den Nationalstaaten. Ein schöner Gedanke, der die aktuell seitens der großen Konzerne permanent zur Begründung für das Rollback von Arbeitnehmerrechten postulierte Globalisierung einmal andersherum deutet - im Sinne eines Weltbürgertums europäischer Prägung.

Leider zeigt die derzeitige Bonner Diskussion über ein Kryptografiegesetz zur Beschneidung privater Verschlüsselungstechniken, daß die Administration ganz andere Vorstellungen hat (Multimediagesetz, Multimediadienste-Staatsvertrag), obwohl der direkte Zugriff des Bürgers auf alle staatlichen Informationen eine neue Säule der Legitimation der demokratischen Gemeinwesen schaffen und so dem Zerfall der politischen Institutionen entgegenwirken könnte. Wenigstens einige Facetten der "multiplen Subjekte" müssen der parlamentarischen Demokratie erhalten bleiben, denn ohne Bürgerbeteiligung kann sie nicht existieren. Die bereits 1979 von Lyotard in seinem "Postmodernen Wissen" geforderte Öffnung der Datenbanken für die Allgemeinheit wäre ein wichtiger Beitrag zur Eroberung des Cyberspace durch den Menschen.

Mit dem Verbreiten von Unabhängigkeitserklärungen im Internet ist es allerdings nicht getan. Bedenkt man, daß Computernetze und Datenbanken die ideale Technologie eines elektronischen Panoptismus sind, so erweist sich die Frage danach, was wir mit dem kommenden Cyberspace machen wollen (oder was wir wollen, daß er mit uns macht) als politische, aber auch als soziale Problematik. Sie bedarf keinesfalls nur technologischer Lösungen. Es wird dort auch um die Verteilung von Macht bis hinunter zu einer Ebene gehen, die in die Konstituierung der Subjekte hinein reicht. Die Auswirkung auf diese Subjekte wird sorgfältig zu beobachten sein, und zwar auch auf solche Subjekte, die nicht zu den Glücklichen zählen, die nicht mit ihrer "Homepage" im Internet präsent sind und daher im Amerika des Cyberspace (wie Kafka vermutete) auch nicht auf Mitleid hoffen können.

Menschliches Leid und soziale Probleme verschwinden nicht, wenn ihre Bilder in einer bunten Flut von Infotainment versenkt werden. Medienseelige Beteuerungen dieser Art von Seiten ästhetisierender Nihilisten dürften sich schnell als Eigentor erweisen. Die Freiheit, Probleme zu lösen, setzt die Fähigkeit voraus, Probleme erkennen zu können. Die Knotenpunkte des Internet, die Suchmaschinen, bedürfen einer demokratischen Kontrolle, seine möglicherweise "feudalistischen" Strukturen sollten kritisch beobachtet werden. Schulen und Universitäten dürfen künftig über der "Computerliteracy" nicht die Entwicklung und Vermittlung einer Ethik vernachlässigen, die den Bedürfnissen des in der Informationsgesellschaft lebenden Menschen angemessen ist. Dem Obdachlosen ist nicht damit geholfen, wenn man ihm seine warme Suppe am Internet-Terminal verabreicht. Er braucht Wohnraum, Schulbildung, eine Perspektive. Das inverse Panoptikum ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es muß um eine soziale Praxis ergänzt werden, die menschliche Bedürfnisse vor den freien Fluß der Information und des Geldes setzt.  TB 1997 (telepolis)

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Dem inversen Panoptismus verwandte Kunst:
Mark Lombardi beobachtete die Macht- und Geldeliten

Ästhetik der Konspiration

Thomas Barth05.07.2012

Ein deutscher Dokumentarfilm vonRealfictionfilm

über Leben und Werk von Mark Lombardi, der dubiose Transaktionen der Finanzindustrie verfolgte

Lombardis "Narrative Structures" sind elegante Organi- und Soziogramme, Bleistift auf beigem Papier: Eine künstlerisch bemerkenswerte Serie von Zeichnungen, Diagramme mit visuellen Darstellungen, die Machtbeziehungen der globalen Wirtschaft und Politik darstellen. Jetzt läuft in deutschen Kinos der Film "Mark Lombardi: Kunst und Konspiration" über Leben und Werk des Künstlers, der sich, laut offizieller Darstellung, am 22.März 2000 das Leben nahm. ...

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Kurzfassung:

Kunst und Konspiration - Ein deutscher Dokumentarfilm über Leben und Werk von Mark Lombardi 

Thomas Barth 09.07.2012 (Abstract für Medienwissenschaft)


In ihrer betont unaufgeregten Dokumentation porträtiert Wegner posthum einen bemerkenswerten Künstler, der fast investigativ-journalistische „Elitenforschung betrieb. Im Internet ein Phänomen, ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt.

Lombardis "Narrative Structures" sind elegante Organi- und Soziogramme, Bleistift auf beigem Papier: Eine künstlerisch bemerkenswerte Serie von Zeichnungen, Diagramme mit visuellen Darstellungen, die Machtbeziehungen der globalen Wirtschaft und Politik darstellen. Jetzt läuft in deutschen Kinos der Film "Mark Lombardi: Kunst und Konspiration" über Leben und Werk des Künstlers, der sich, laut offizieller Darstellung, am 22.März 2000 das Leben nahm.

Wegener recherchierte und drehte für diesen Film monatelang in den USA. Visuell arbeitet sie mit Bildern, die man aus journalistischen Enthüllungsfilmen kennt, mit Aufnahmen imposanter Gebäudefassaden, Experten- und Zeugen-Interviews, Kamerafahrten hinab ins Archiv Lombardis. Doch statt den sonst auf Betrachter einprasselnden Fakten und atemlosen Reporterberichten begleitet die Aufnahmen oft Schweigen, die Gespräche und Kommentare sind ruhig, lassen Zeit zum Nachdenken. Ähnliche Eindrücke in einem vergleichbaren Kontext weckte bislang nur der Film von Gerhard Friedl: "Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?" Die bemerkenswerte Kameraführung ist Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte.

An den Zeichnungen Lombardis ist die exakte Raumaufteilung zu bewundern, auch die akribische Ausführung der auf den ersten Blick wie florale Ornamente wirkenden, quadratmetergroßen Diagramme. Im Film wie im Netz sind die Bilder schwer darstellbar, es gibt zu viele Details, man verliert schnell den Überblick. Der Inhalt der Kunst von Mark Lombardi (1951-2000) sind Zeichnungen über Verbindungen von Finanzwelt und internationalem Terrorismus, über Oliver North und die Iran-Contra-Affäre bis hin zur Verstrickung der Bush-Familie mit Bin Laden, die Lombardi lange vor den 9/11-Anschlägen dokumentierte.

Mark Lombardi begann 1995, zunächst wenig beachtet, in Houston seine Zeichnungen auszustellen. Erste größere Aufmerksamkeit weckte er im Rahmen einer Gruppenausstellung im Drawing Center, SoHo 1997. Er zog nach New York und hatte seine erste Einzelausstellung, ''Silent Partners'', im Jahr 1999 in der Galerie Pierogi 2000, die heute noch seine Werke im Bestand führt, dann folgte ''Vicious Circles'' in der Devon Golden Gallery in Chelsea. Es war ein kurzer, aber stetiger Anstieg der Aufmerksamkeit: Lombardis Arbeiten wurden inzwischen weltweit in zahlreichen Museen und Galerien ausgestellt.


Die Kunstkritikerin Frances Richard meint, dass Lombardi mit seinem Begriff "Narrative Strukturen" stillschweigend zugab, seine kartographierte Konversation sei eine konstruierte Fantasie, eine abenteuerliche und vorsätzliche Verwechslung von quantitativer und qualitativer Analyse. Karten gehören für sie in den Bereich von Zahlen und Körperlichkeit (oder scheinen dorthin zu gehören), während das Gespräch ein durch und durch subjektiver, immaterieller Prozess ist. Dennoch mutet es geradezu hellseherisch an, wie Lombardi die Themen vorauszusehen schien, die uns seitdem beschäftigen. #

Hier eine ähnliche Idee, umgesetzt mit deutschen Firmen/Vereinen
MOBLOG-Projekt "Verstrickungen": INSM, Atlantikbrücke, Bertelsmann






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ChaosComputerClub e.V. Hamburg / FoeBuD e.V. Bielefeld   1995 Chaos Communication Congress

Cyberspace and the Way to the Inverse Panopticon

by Thomas Barth (overworked for DECODER, Milano)    Siehe weiter unten->

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Rezeption:


Angela Gamsriegler (2003):
Macht und Kontrolle im (Super)panopticon  (pdf)


aus Daniel Kulla: Der Phrasenprüfer (2004)

Exkurs Inverser Panoptismus

Thomas Barth aus Hamburg hat einige Zeit in der Hackerszene Forschungen angestellt

(Anmerkung dazu von T.Barth: Eine leichte Untertreibung - seit 1985 teilnehmende Beobachtung in der Hacker (Sub-) Kultur, 1990 psychologische Diplomarbeit zum Thema "Psychologie des Hackers" (widerlegte die damals als gültig angesehenen Theorien zur Psyche der Hacker und ihrem "Maschinellen Charakter", so der Buchtitel einer 1987 als Standardwerk angesehenen DFG-Studie), 1993 kriminologische Diplomarbeit zum Thema "Kriminalisierung der Hacker" (die erste Studie dieser Art), zahlreiche Vorträge und Workshops auf Hackerconventions, vor allem auf den Chaos Communication Congressen des Chaos Computer Clubs von 1989-2011 zu Datenschutz, Netzkultur, Cyberpunk-Utopien, Lucid Dreaming, Medienmacht, Netzethik, Netzmedienrecht und vielem anderen)

und zu ihrer allgemeinen sozialen Einstellung eine Theorie aufgestellt.

Sie geht zunächst vom Ordnungssystem der modernen Industriegesellschaften aus, das in der Zeit der Aufklärung entstanden ist. Besonders Michel Foucault untersuchte die Gemeinsamkeiten in der Struktur von Fabriken, Gefängnissen, Irrenhäusern und Schulen. Zunächst traten diese Einrichtungen etwa zeitgleich auf. Ihre Direktoren ordneten das Leben der Insassen  totalstmöglich. Um das zu erreichen, wurde schon bei der Architektur dieser Gebäude wert darauf gelegt, daß sie möglichst vollständig zu überwachen waren. In Idealvorstellungen wurden Röhren und Spiegel so angebracht, daß der Direktor jederzeit in sämtliche Zellen oder Räume Einblick hatte. Umgekehrt waren die Insassen natürlich nicht in der Lage, ihren Beobachter zu sehen. Auf diese Weise sollte sich jeder ständig beobachtet fühlen. Diese Konzeption nennt Foucault Panoptismus.

Die massenhafte Verbreitung von Einrichtungen dieser Art trug dazu bei, daß die modernen Kulturen paranoid und schuldzerfressen wurden. Die namenlosen Richter bei Kafka. Big brother is watching you. Der liebe Gott sieht alles.

Die Hacker spitzten dieses Problem zunächst zu, um es deutlich zu machen. Sie kultivierten die Paranoia geradezu, machten die Möglichkeiten von Überwachung und Kontrolle zum Thema, in beispielhaften Aktionen machten sie sie sichtbar.

Mit ihren gerade vom CCC erhobenen Forderungen drehten sie den Spieß um. Sie verlangten eine „maschinenlesbare Regierung“ und verordneten sich den Grundsatz: „Private Daten schützen, öffentliche nützen.“

In den USA hatte diese Entwicklung wie immer schon Jahre zuvor stattgefunden: die Diskussionen um die Ermordung Kennedys und mögliche Geheimdienstverstrickungen waren Anlaß für den Kongreß, 1972 den Freedom of Information Act zu erlassen. Mit der Einschränkung bestimmter Fristen und Sicherheitsstufen können seitdem regierungsoffizeille Dokumente von Bürgern der USA eingesehen werden.

Da die deutschen Hacker aus verschiedenen Gründen weit davon entfernt waren, eine gesetzliche Änderung solchen Ausmaßes herbeizuführen, verharrten sie in der Entdecker-Position. Sie benötigten weiterhin Sicherheitslücken oder kleine Skandale, um unzugängliche Informationen zutagezufördern. Watching them watching us, heißt die Formel bis heute.

Thomas Barth folgerte, daß sich bei den Hackern ein übermoralischer Standpunkt entwickelte, dem von Greenpeace vergleichbar. Während sie sich selbst für unschuldig und unangreifbar erklärten, versuchten sie, den „Direktoren“ möglichst viele Vergehen nachzuweisen. In der „Hackerbibel“ hieß das dann: „Ein ganz klein bißchen verstehen wir uns als Robin Data. (...)

Anmerkung von Thomas Barth: Die Formulierung "übermoralischer Standpunkt" kann ich so nicht bestätigen -nicht nur wegen der neckisch-nietzscheanischen Anspielung auf den Übermenschen, auch weil Daniel Kulla seinen Moralbegriff nicht näher erörtert bzw. definiert, aber dem Buch als Gesamtkunstwerk stehe ich wohlmeinend gegenüber, vgl. meine Buchbesprechung auf Telepolis kurz nach der Buchpublikation:

Konstruktive Paranoia

Thomas BarthTELEPOLIS  11.01.2004

"Der Phrasenprüfer": Biographie von Wau Holland, des 2001 verstorbenen Mitbegründers des Chaos Computer Clubs

Wau Holland, der amtlich Herwart Holland-Moritz hieß, war Mitbegründer des Chaos Computer Clubs (CCC) und technischer wie sozialer Visionär. Er starb 2001, kurz vor seinem 50. Geburtstag. Sein Nachlass wird inzwischen in einem Archiv der Netzwelt zur Verfügung gestellt und der jüngste Chaos Congress präsentierte die in Hackerkreisen nicht unumstrittene "Beinahe-Biographie".

Der Autor Daniel Kulla ein Jungliterat und Text-Hacker vom Prenzlauer Berg, versucht eine biographische Annäherung an das Leben des CCC-Gründers: "Der Phrasenprüfer". Der Titel spielt auf Wau Hollands Talent an, Sprache kritisch zu zerlegen und in entlarvende Aphorismen zu gießen, sowie auf sein Markenzeichen: einen Phasenprüfer, den der gelernt Fernmeldetechniker stets in seiner Latzhose bei sich führte. Von einem schnippischen Journalisten einmal gefragt, wozu er so etwas denn brauche, soll Wau geantwortet haben: "Falls ich mal telefonieren muss."

Wau Holland wird in Kullas von leichter Hand am Rande der Schnoddrigkeit verfasstem Text an vier exemplarischen Wirkungsstätten beschrieben: In Hamburg, Jena, Berlin und Löhrbach, der Wirkungsstätte des Underground-Verlages Grüner Zweig, der sich hauptsächlich mit Drogen, Anarchie und Medienexperimenten befasst. Dessen Besitzer Werner Pieper war ein guter Freund Waus und hatte die legendären Hackerbibeln herausgegeben, die nicht zuletzt den Ruf des Chaos Computer Clubs begründeten. Auf seine Initiative geht das vorliegende Buch zurück, dessen Autor von Pieper auch als Lektor beschäftigt wird.

Die Schilderung jedes Schauplatzes beginnt Daniel Kulla mit den von ihm interviewten Gesprächspartnern, Waus Freunden aus alten Hackerkreisen. Er schildert bedächtig wie der Ort mit den Protagonisten in Verbindung steht, woher sie kamen, was sie rauchten, worüber sie stritten. Den Rahmen der vier Szenen setzt er dabei anhand der Musik, der konsumierten Genussmittel, der Anlässe. In Hamburg ist es ein "normaler" Chaostag im Club, in Jena eine coole WG-Party, in Löhrbach ein mystisch-philosophisches Vollmondtreffen der Freunde des Grünen Zweiges", die Berlin-Szene schließlich greift auf den jährlichen Chaos Communication Congress zurück, die jährliche Hacker-Convention, die mittlerweile regelmäßig 2-3000 junge Computerfans anzieht. Nebenbei wird die Geschichte des Clubs in groben Zügen nachgezeichnet sowie auch die Heimholung bzw. -suchung der DDR aus östlicher Sicht - Wau verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in Jena.

Wem gehören unsere Daten?

Vielleicht war Wau Holland nicht wirklich "der größte deutschsprachige Aphoristiker seit Lichtenberg" (so der Klappentext). Seine bedeutsame Rolle als Nestor der deutschen Hackerszene ist jedoch unbestreitbar. Wau Holland stellte die Kardinalfrage der Informationsgesellschaft: "Wem gehören unsere Daten?" Sein visionärer Ansatz war einprägsam, radikal und unerfüllbar: "Alle Informationen sollten frei sein." Gemeint war dies als Basissatz, der durch weitere Pflichtsetzungen einzuschränken und zu entfalten sei, insbesondere den Schutz privater Daten. Inzwischen entwickeln Hacker auf der Basis einer so begründeten Hacker-Ethik Zukunftsentwürfe wie den (im Buch angedeuteten) "inversen Panoptismus" und natürlich die nötigen Technologien, um sie noch zu Lebzeiten umzusetzen.

Kulla rekonstruiert Originaltöne des Nestors der deutschen Hackerszene aus Video- und Tonbandaufzeichnungen und reichert sie phantasievoll mit schriftlich oder mündlich überlieferten Äußerungen an. So verdichtet er sie geschickt in einer filmartigen Doku-Fiction, mit Zeitzeugen-Interviews, Rückblenden, Exkursen, O-Tönen und Bildmaterial.Effekthascherei wird dabei weitgehend vermieden, die Szenen sind ruhig, Gespräche kreisen, mäandrieren rund um Themen aus der Subkultur der Netze: Datenschutz, Quantenmechanik, Linux, Bewusstseinserweiterung. Wau wird respektlos und mit dichterischer Freiheit plastisch gemacht.

Langsam nähert man sich dem Ende Waus, seine Gesundheitsprobleme treten hervor, böse Vorahnungen kommen auf, letzte Begegnungen werden nachgezeichnet. In die spürbare Trauer mischt sich das belebende Andenken an einen modernen Diogenes, dessen tiefgründiger Humor weit mehr an Weisheit zeigte als manch akademische Abhandlung zum Thema Computerkultur. Vor allem die "Popularisierung der konstruktiven Paranoia" sei Wau zu verdanken, so das Fazit des Buches.

Wenn sich hier ein "junger Wilder" aus dem Osten an der Geschichtsschreibung einer zunächst rein westdeutschen Erscheinung versucht, so generiert dies schließlich einen speziellen Reiz: Den rückwirkenden Blick von außerhalb, der gerade deshalb besonders leicht an deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten hängen bleibt. So z.B. bei der Beschreibung des legendären HASPA-Hacks, bei dem der CCC eine Hamburger Bank online um gute 100.000 DM erleichterte. Danach, so Kulla,

stand auch der Chaos Computer Club unter dem "Verdacht der freischaffenden Subversion". Für die vielen jungen Deutschen, die sich diesem Projekt der Datenbefreiung verschrieben, hatte das therapeutische Wirkung. Sie lernten die Kraft der Bewusstmachung kennen, lauter Deutsche, deren Taten von Spaß durchdrungen wurden. (...) Man machte Scherze, mitten in Deutschland; der befreiende Witz, der hierzulande als unsittlich gilt, fand ein Zuhause. Des groben Unfugs bezichtigt, beharrte er darauf, "feinen Fug" zu machen. Er hieß Wau. Wau Holland. (...) Der zentrale deutsche Fetisch, den es zu exhumieren galt, war die Sicherheit, die Ursache für den faulen Frieden vorher, das Bedürfnis, sich in Sicherheit zu wiegen. Daher war die persönlichste Manifestation des CHAOS der gleichnamige Computer Club, der mit beinahe missionarischem Eifer darauf bestand, dass es keine Sicherheit gibt, dass sie nichts weiter als eine nette, aber ebenso trügerische Illusion ist und der sich daran machte, Schritt für Schritt zu beweisen, an wie vielen Stellen diese Sicherheit trügerisch war.

Daniel Kulla: Der Phrasenprüfer: Szenen aus dem Leben von Wau Holland, Mitbegründer des Chaos Computer Club, Der Grüne Zweig 241, ISBN 3-922708-25-0; 144 Seiten, 8 Fotos, 9 EUR

 

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M.Bliemeister: Digitale Überwachung (2005) pdf-download

 

 

 

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 ChaosComputerClub e.V. Hamburg / FoeBuD e.V. Bielefeld    CCC 1994


ChaosComputerClub e.V. Hamburg / FoeBuD e.V. Bielefeld    CCC 1994

 

Cyberspace und der Weg zum inversen Panoptikon

Thomas Barth 1994 (Referent: Sondererfahrungen...)

Panoptikum bedeutet im Englischen nicht Wachsfigurenkabinett, sondern bezeichnet eine spezielle Form von Gefängnisarchitektur. Im panopticon ist jeder Häftling von einem Zentralturm aus für die Wächter sichtbar; die Wächter dagegen sind für ihn unsichtbar, so daß er nicht weiß ob und wann er unter Beobachtung steht.

Der französische Philosoph Michel Foucault leitet von dieser Erfindung der frühen englischen Aufklärung eine ganze Theorie unserer Kultur her ("Panoptismus"). Disziplinierung durch den kontrollierenden Blick spielt demnach auf jeder gesellschaftlichen Ebene eine große Rolle für die Selbstkonstruktion der Subjekte: Von der Registrierung des Neugeborenen im Krankenhaus über Schule, Familie, Armee bis zur staatlichen Steuerung der Bevölkerungsentwicklung.

Mein Essay "Cyberspace and the Way to the Inverse Panopticon" versucht eine Erweiterung des Konzeptes des Panoptismus auf die moderne Multimedia-Gesellschaft. Als Möglichkeit einem ausufernden Überwachungsstaat entgegenzuwirken, wird die Idee eines "Inversen Panoptikons" angeboten, in welchem die Sichtbarkeitsverhältnisse umgekehrt werden sollen: Nicht der gläserne Bürger, sondern die gläserne Bürokratie sind gefordert -bei vollem Datenschutz für persönliche Informationen.

Anfang 1995 erscheint ein Buch von Thomas Barth, welches unter dem Titel "Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft" versucht, das Problem mit Hilfe eines systemtheoretischen Ansatzes zu analysieren (Centaurus-Verlag, Pfaffenweiler 1995)

Deutsche Zusammenfassung des Essays

Günther Anders (1902-1993) Philosophie des Menschen im technischen Zeitalter, wird kurz vorgestell, insbesondere seine Arbeit über die Massenmedien: "Die Welt als Phantom und Matrize" (in: "Die Antiquiertheit des Menschen", Bd.1). Die These einer Auflösung oder Zerstreuung der Subjekte wird im Hinblick auf Anders und die postmoderne Philosophie diskutiert. Die Parallele von Auflösung von Welt und Individuum durch die Massenmedien (Anders) und der von Postmodernen vertretenen These vom "Tod des Subjektes" wird angenommen. Dieser Ansatz wird auf die Informations- und Medienkultur erweitert. Ansätze der Frankfurter Schule und von Neomarxisten werden kritsch beleuchtet. Foucaults Metapher vom Panoptikon, des "Netzes der Einsperrungen", der Kontrolle, Überwachung und Disziplin wird auf seine aktuelle Bedeutung überprüft.

Die These von Gilles Deleuze, die Disziplinargesellschaft gehe zu einer Kontrollgesellschaft über, wird durch eine Analyse des Panoptikon/Massenmedien-Mechanismus erhärtet. In diesem Mechanismus wirken zwei komplementäre Technologien auf eine Kontrolle von Verhalten, Illusionen und Begehren hin, die vielleicht die traditionellen Formen der Einsperrung in Zukunft überflüssig machen könnten.

ChaosComputerClub e.V. Hamburg / FoeBuD e.V. Bielefeld   1995 Chaos Communication Congress

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Cyberspace and the Way to the Inverse Panopticon

by Thomas Barth 1994 (overworked for DECODER, Milano)

Survey: 

1.   Introduction:  Guenther Anders' Philosophy 

2.   The Dispersion of the Subject

2.1. Anders & Postmodernism

2.2. The Babbitization-Syndrom

2.3. Dissolution of the Present-Horizon 

3.    New Aspects of Power

3.1. Panopticon, Television & Control -A New Device

3.2. Between Marx and Monitors: Viewpoints on  Information Society

3.3. The Control Society

3.4. Computerization and Anti-Control-Movement  

 

Abstract:  Guenther Anders' (1902-1993) philosophy of humans in the technological age is briefly introduced, especially his work on the mass-media  (The World as a Phantom and a Matrix, 1956). The thesis of the dispersion or dissolution of the subject is discussed with regard to Anders and some postmodern authors, mainly Foucault. A parallel between dissolution of world and individual caused by the mass-media (Anders) and the thesis of the dissolved subject by the postmodern authors is supposed.  The ideas introduced here are extended on the information technology and society. Issues of Neomarxists and the Frankfurter Schule on explaining information society are discussed. The Foucaultdian metaphor of Panopticon/Panoptism, the "network of incarceration", of control, surveillance and disciplines is questioned as to its actuality in the modern societies. Deleuze's thesis of the change from a disciplinary society into a control society is supported by an analysis of the Panopticon/television-device. This is supposed as a mechanism of two different networks of technology working together in controlling behavior, illusions and desire, which makes the traditional incarceration obsolete.  Computerization is considered as an important part of this change into control society. According to Lyotard the creative and critical use of the computer technology  by  a counter- culture of hackers  is recommended as an anti-control movement. 

 

1. Introduction:

Guenther Anders' Philosophy of the Technological Revolution 

The concept of the panopticon  needs an analysis in the broader context of technology (especially of mass- media). Technology is the issue of a philosopher, well known in German public but expulsed and mostly concealed in the world of scientific and academic philosophy. The recently deceased philosopher Guenther Anders had centered his work outside of the academic area. His father, William Stern  ("Anders" was the philosopher's artist-name) had been expelled to exile by the Nazis and their academic accomplices. He was the founder of the Hamburg University's Psychology section.

Anders made ends meet by doing "odd jobs" in the U.S.A., where he also worked as a factory worker, a fact that furnished material for his critical analysis of the relationship between man and technology.  His analysis of the destructive dimension of techno-scientific progress is regarded today as "one of the great documents of self-criticism of the left"  and is compared to Horkheimer and Adorno's "Dialectics of Enlightenment": "Die Antiquiertheit des Menschen" (The Antiquity of Man) , the first volume of which appeared in 1956.

The basically media-pessimistic tendency of his essay "The World as a Phantom and a Matrix", which is contained in this book, has only been partly revised by Anders in his preface to the fifth issue in 1979, as a consequence of his perception of the media's Vietnam reports. The positive effect of the latter he commented by: "Pictures perceived are certainly worse than perceived reality,  but they are still better than nothing at all." (p. VIII).

It is the goal of this essay to compare Anders' theses with a few more modern points of view, especially with Foucault's "Surveiller et punir". The conclusions of Anders makes him to an anti- McLuhan, to anti-prophet of the global village. His critic will give some interesting hints how to deal with cyber- and other spaces.  

 

2. The dispersion of the subject 

2.1. Anders & postmodernism 

 

An important thesis in structuralist and postmodern reflexion on culture is the dissolution of the subject. The thesis proclaiming the "Death of Man", uttered more often and more vigorously by his critics than by Foucault himself, makes a point  of this blasphemy against the social sciences . Even when considered as an "epistemological metaphor" , there still has arisen some quarrel.

Being an abstract result, this moderating view of the subject seems to be astonishingly congruent with Guenther Anders' observations on modern man: i.e. that mass media transform us into scattered existences amidst some "ontological ambiguities". Are the theoretical insights of the post-modernists only inspired by the personal  relationship between their author and the world, a relationship which  in turn is widely determined by the mass-media? Are perhaps the postmodern theories a mere mirror of today's circumstances of individual "reality production"? 

Anders sees a cause of this new relationship in the irruption of technical achievements, mainly mass-media, into our everyday world. The "dispersion" (or "dissipation")  of the subject also occurs in his phenomenological media theory, where he uses the same image as Foucault. "Structuralism does not at all deny the existence of the subject, but it makes the subject  crumble and systematically scatters it,  it denies the subject's identity, dissolves it and makes it go from one place to another, changes it into a subject that will always be a nomad". (Deleuze op.cit.)  

 

2.2. The Babbitization-Syndrom 

Mass-media tend to bring closer to us people who are far away,  whom we will never actually meet and who maybe are only fictitious, so that in the end they seem to be closer than the real ones that we personally know. This applies  not only to people but also to things, to sports, culture, war, catastrophes - all these are abundant in our homes. The neologism "Verbiederung" -babbitization, describes this process as a distortion of the world which supports a simple form of world view, the view of the bourgeois.

The good and the bad are easy to discern, a well-ordered scenery of frames guards the babbit, who is frightened of everything alien, and in general, of the chaos of the world. But shrunken to little two-dimensional puppets, the criminal and other deviant monsters give us a nice thrill:  we know Batman will take them into prison. Even real nuclear disasters are easy to consume, guarded by the experts and by trustful official faces. Anders speaks of us being systematically changed into "companions of the globe" by our electronic tranquilizers. He also says that we should not mistake this as something that enables us  to love the far-away, as a state of real brotherhood or even mystical "Einsfuehlung", as it was found by cultural optimists like Marshal McLuhan or Teilhard de Chardin in "Global Village" or "Noosphere", respectively. 

On the contrary, a media consumer rather grotesquely loses his ideas of distance or difference. The everyday life of a normal consumer is marked by an increasing disappearances of spacial categories. Railways, cars and airoplanes make continents shrink to villages. The globe becomes a supermarket where foreign countries and cultures can be con