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Wie können wir Wohlstand messen? Welche Werte gelten heute? Im Leben und im Job in Balance? Brauchen wir ein neues Geldsystem? Bringt uns das Elektroauto wirklich weiter? Mehr Kooperation statt Konkurrenz in der Wirtschaft?



Ein Vorschlag für neun aktuelle Werte orientiert sich an  Wissenschaft, den Menschenrechten und an der Tugendethik. Vorschläge für ein umsichtiges Leben und Wirtschaften werden mit Beispielen für Erwerb, Mobilität, Wohnen und der Organisation von Unternehmen illustriert.

Aus dem Kapitel "Tugenden":

Die Aufklärung und das Projekt der Moderne haben mehr getan als dem Menschen nur zu helfen, ein tugendhafteres Leben zu führen. In gewisser Weise könnte man sagen, sie haben einen neuen, den modernen Menschen, erst entstehen lassen: Einen Menschen, der über für damalige Zeiten ungeheuerliche, für den Erwachsenen von heute aber zumeist völlig selbstverständliche Freiheiten verfügt.

Es geht dabei um Freiheiten sowohl der äusseren wie auch der inneren Lebensführung, Freiheiten des Glaubens, des Fühlens, Denkens und Handelns. Die meisten dieser Freiheiten mussten gegen diverse geistliche und weltliche Obrigkeiten mühsam erkämpft werden. Am Anfang dieses langen, blutigen Kampfes stand die Forderung des Individuums, überhaupt irgendwelche Rechte gegenüber der Obrigkeit zu haben, am Ende stehen unsere heutigen Menschenrechte –als internationale Verträge festgelegt und in den Verfassungen und Rechtssystemen der meisten Länder mehr oder weniger gut verankert.

Unser Begriff der Freiheitsrechte beinhaltet gemäss dem Ideal der Gleichheit, dass jedem Menschen ohne Ansehen der Person die Grundfreiheiten zu gewähren sind. Er beinhaltet jedoch auch die Annahme, dass jeder dafür zunächst in einem Prozess der Entfaltung und Erziehung bestimmte charakterliche Voraussetzungen entwickeln muss. Welche dies genau sind und wie man feststellen kann, ob ein Mensch sie erreicht hat, bleibt jedoch weitgehend unbestimmt.

Gemäss dem Prinzip der Gleichheit werden jedem in einem abgestuften System mit fortschreitendem Alter immer mehr Freiheiten gewährt, wobei der grosse Einschnitt die Volljährigkeit mit 18 ist. Die Freiheiten dürfen jemandem nur dann wieder entzogen werden, wenn er sich ihrer durch Verletzung der Gesetze als unwürdig erweist. Dabei tritt ein differenziertes Bewertungs- und Bestrafungssystem in Aktion, dass eine gerechte Beurteilung sicherstellen soll. Dies geschieht unter dem wachsamen Blick der Öffentlichkeit aller freien Bürger, damit diese die Schutz- und Machtfunktion des Staates über ihre Freiheiten kontrollieren und gegebenenfalls politisch eingreifen können. In seltenen Fällen können Freiheitsrechte ferner eingeschränkt werden, wenn jemandes Geisteszustand nach ärztlichem Urteil ihn zur Gefahr für sich oder andere werden lässt.

Ob jeder mit 18 wirklich schon die nötige moralische Reife für alle damit verbundenen Freiheiten hat, darf natürlich bezweifelt werden. Unfallstatistiken weisen beispielsweise daraufhin, dass jüngere Fahrer eher dazu neigen, am Lenkrad Geschwindigkeitsrausch, Aggression und Geltungsdrang freien Lauf zu lassen. Letztlich spielt neben der rein altersmässigen Reife auch die genossene Erziehung und damit das soziale und kulturelle Umfeld eine grosse Rolle. Generationen von Pädagogen und Psychologen haben sich mit dem Problem befasst und man geht heute von drei Hauptphasen der individuellen Moralentwicklung aus.

Die erste ist die präkonventionelle Ebene, das Niveau des Kleinkindes. Auf diesem Niveau der moralischen Entwicklung steht allein die physische Behaglichkeit im Vordergrund. Dabei entsteht eine wachsende Einsicht in gegenseitig nützlichen Austausch, sobald das Vorhandensein von Bedürfnissen anderer Personen ins kindliche Bewusstsein dringt. Gerechtigkeit wird bereits ein relevanter Begriff, aber nur im Rahmen eines direkten Austausches von Hilfsleistungen und Dingen. Moralisches Denken in „Gut“ und „Böse“ erschöpft sich dabei noch im Ergattern von Belohnungen und im Vermeiden von Strafen. In der Religion steht auf diesem Niveau etwa die schlichte Drohung mit der Hölle und das Versprechen eines Paradieses im Jenseits oder Karma-Provisionen für das nächste Leben. Eine typische moralische Aussage wäre hier: „Das ist verboten!“

Die zweite ist die konventionelle Ebene, das Niveau des gut sozialisierten Kindes und Jugendlichen. Die Anerkennung von Werten dient nicht mehr allein egoistischen Zwecken, die Werte werden vielmehr verinnerlicht. Die Regeln der sozialen Ordnung werden nun befolgt, um soziale Anerkennung zu erhalten, also um Loyalität zu zeigen. Zunächst gilt diese Loyalität vor allem Eltern, Lehrern oder anderen Autoritäten, später vor allem der „peer group“ der Klasse oder Clique. Das Kind versucht, den Erwartungen anderer, dem zugewiesenen Rollenverhalten zu entsprechen. Was Gut und Recht ist, bestimmt die Autorität von Mama, Papa oder Lehrer oder die Mehrheit der peer group, die sich im späteren Leben auf Dorf, Volk, Christenheit oder sonstige Grossgruppe ausweiten kann. Menschen dieser Entwicklungsstufe tun ihr Leben lang, was „man“ eben tut, ohne gross selbst darüber nachzudenken. Abgesehen von gelegentlichen Rückfällen in den Egoismus der ersten Ebene folgen sie Autoritäten, weshalb man auch vom „autoritären Charakter“ spricht. Die Konventionellen sind also sehr leicht manipulierbar und entsprechend beliebt bei der Obrigkeit, vor allem, wenn diese Übles vor hat, etwa im Faschismus. In der Religion steht auf dieser Stufe das brave Einfügen in die Gemeinde, die Rituale und Sitten, auch die Orientierung an idealisierten Vorbildern wie Heiligen, Märtyrern oder Propheten. Eine typische moralische Aussage wäre hier: „Das tut man nicht!“

Zuletzt kann man die dritte, die postkonventionelle Ebene erreichen, das Niveau des voll entfalteten Erwachsenen. Moralische Werte und Prinzipien werden hier aufgrund eigener Einsicht und losgelöst von der Meinung der Autoritäten bzw. der Gruppe entfaltet. Man spricht daher auch von moralischer Autonomie aufgrund moralischer Prinzipien. Man wählt selbst ethische Prinzipien nach denen man dann aufgrund einer persönlichen Verpflichtung handelt, gegebenenfalls auch gegen die Obrigkeit, gegen die herrschende Meinung und gegen die eigene Nahgruppe. Im Grunde sind es allgemein gültige Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Achtung vor der Würde des Menschen, die hier handlungsleitend werden. Die Begründung kann über die Menschenrechte oder andere, etwa religiöse Einsichten erfolgen, sofern sie eigener Reflexion und nicht der Gefolgschaft zur Autorität einer Kirche oder eines Dogmas entspringt. Man spricht auch vom Vernunftstandpunkt der Moral, wobei nicht nur der Kopf sondern auch das Herz die nötige Bildung aufweisen muss. Nur bei wohlwollender Umgebung, sorgender, kluger Erziehung und schliesslich ausreichendem eigenem Willen zur Bildung kann dieses Ziel erreicht werden. In der Religion bedeutet dieses Niveau die ernsthafte Reflexion eigener Glaubens- und Wertvorstellungen, spirituelle Erfahrungen der Transzendenz blosser individueller Glücksgefühle und Gefühle der Nächstenliebe. Eine typische moralische Aussage wäre hier: „Das ist unmenschlich und unmoralisch, weil...“

Das Rebellieren gegen vorgegebene Konventionen ist Teil unserer Kultur spätestens seit der Aufklärung. Die meisten Jugendlichen vollziehen dies in ihrer Entwicklung nach, wobei die Versuchung gross ist, zunächst einmal eigene Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen, wie das Kleinkind vor der Internalisierung der elterlichen Normen. Die Entwicklung der Erkenntnis, dass Freiheit nicht nur Freiheit von äusseren Regeln, sondern auch von ungezügelten inneren Leidenschaften ist, kostet Eltern und Lehrer meist eine Menge Geduld und Nerven. Die Regeln und Denkweisen in Familie und Gesellschaft geraten so unter ständigen Druck nachwachsender Generationen, müssen sich rechtfertigen und weiterentwickeln. Vielleicht liegt hier ein Grund für die grössere Dynamik im geistigen, sozialen und wissenschaftlich-technischen Bereich, die der Westen seit der Aufklärung entfaltete.

Die Freiheit des Einzelnen als grossen Wert in den Mittelpunkt zu rücken, bedeutet, ihn von äusseren Zwängen zu befreien. „Freiheitsberaubung“ ist heute im Strafgesetzbuch (neben Entführung, Geiselnahme etc.) eine „Straftat gegen die persönliche Freiheit“, die durch freiheitseinschränkende Mittel der List, Drohung oder Gewalt begangen werden kann. Früher galt es als das gute Recht der Obrigkeit, ihren Untertanen die herrschenden Regeln einzuprügeln, aufzuzwingen oder listig aufzuschwatzen. Im weitesten Sinne bedeutet Erziehung heute auch, den Heranwachsenden gegen derartige Manipulationen zu immunisieren.

In einer Umgebung, die den mündigen Erwachsenen im Sinne eines selbstständig moralisch Urteilenden als Idealbild hat, neigen natürlich auch konventionelle Charaktere dazu, sich so zu definieren. Die rollenhafte Übernahme entsprechender Haltungen ist sogar zunächst der erste Schritt zu ihrer Integration in die Persönlichkeit auf postkonventioneller Ebene. Selbst präkonventionelle Charaktere versuchen zuweilen, sich nach aussen so darzustellen als folgten sie einer konventionellen oder sogar mündigen Moral, wenn ihnen dies Vorteile verspricht. Der postkonventionelle Charakter wird aber moralisches Verhalten auch zeigen, wenn er keinen Vorteil davon erwarten oder sogar Nachteile dafür befürchten muss. Und er wird seinen selbst gewonnenen Moralurteilen auch dann folgen, wenn sie nicht mit dem übereinstimmen, was „man tun sollte“. Menschen in Umbruchsituationen sortieren mitunter ihre Werte gerne neu und reifen mit ihren kleinen und grossen Krisen.

Ein Rückfall auf niedrigere Ebenen ist natürlich sehr leicht möglich und kommt bei den meisten Menschen gelegentlich vor, sofern sie keine Heiligen sind. Der konventionelle Typ empfindet dabei Schuldgefühle, wenn er mit Gesetzen und Normen seiner Umgebung in Konflikt gerät, der Postkonventionelle, wenn er seinen selbst gewonnenen Moralurteilen nicht genügt. Für Präkonventionelle besteht das Problem nur darin, einer Bestrafung zu entgehen. Sie bleiben in moralischer Hinsicht Kinder, die jedoch mit den physischen und oft auch geistigen Fähigkeiten von Erwachsenen gefährliche, sozialschädliche Aktivitäten entfalten. Extrem präkonventionelle Erwachsene, denen jede Einsicht in soziale Verantwortung und selbst jedes Mitgefühl für andere fehlt, bezeichnet man als Psychopathen. In wettbewerbs- und konkurrenzorientierten Umgebungen gelangen sie oft an die Spitze der Machtpyramide. Teils gelingt ihnen dies, weil sie unlautere bis kriminelle Mittel einsetzen, teils weil sie anderen Hilfe verweigern, überhaupt Liebes- und Freundschaftsbeziehungen vermeiden –es sei denn, diese sind karriereförderlich. Die moderne Wirtschaftspsychologie fand beispielsweise unter Top-Managern weit überdurchschnittlich starke Tendenzen zur Psychopathie.

Präkonventionelle Charaktere, denen es gelungen ist mit einigen Untaten davonzukommen, neigen gelegentlich dazu, auf alle anderen herabzublicken. Sie können sich nicht vorstellen, dass viele der von ihnen gern als „Gutmenschen“ verhöhnten anderen nicht moralisch handeln, um als „gute Menschen“ dazustehen, sondern aus Einsicht und Mitgefühl. Für Präkonventionelle zählt nur, „dass man sich nicht erwischen lässt“. Um sie von schlimmeren sozialschädlichen Untaten abzuhalten brauchen wir Gesetze und eine Justiz, die sie wirksam durchsetzt. Gesetze markieren also das „ethische Existenzminimum“ der Gesellschaft. Wo dieses liegt, wie und wer seine Einhaltung überwachen und wessen Freiheiten man dafür einschränken darf, ist politisch höchst umstritten. (...)






Die DGPuK-Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik und das Netzwerk Medienethik laden Interessierte aus Wissenschaft und Praxis mit einem Call for Papers herzlich ein, sich an unserer Jahrestagung (Do 14. – Fr 15. Februar 2013 in München) zu beteiligen.

Thema der Tagung: „Neuvermessung der Medienethik. Bilanz, Themen und Herausforderungen seit 2000“.

Die Entwicklungen in den und durch die Medien stellt auch die Kommunikations- und Medienethik immer wieder vor neue Fragen und Herausforderungen. Viele der Zugänge scheinen angesichts des ständigen Medienwandels und des damit verbundenen verbundenen strukturellen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandels nicht mehr zeitgemäß. Gleichzeitig wächst ein medienethischer Orientierungsbedarf. Denn die Grenzen zwischen individueller und massenmedialer Kommunikation verschieben sich,  die Grenzen traditioneller Rollen von Sender und Empfänger lösen sich auf, hinzu kommen die wachsende Mobilität der Produktion und Nutzung medialer Angebote, die zunehmende Globalität und Schnelligkeit medialer Kommunikation und ihres Einzugs in die private, schulische und Arbeitswelt.

Thematisch nimmt die Jahrestagung 2013 daher kommunikations- und medienethische Themen und Zugänge mit dem Ziel einer „Neuvermessung“ der Medienethik in den Fokus. Dieser Zugriff betrifft eine Vielzahl von Themenstellungen:

  • Welche neuen Forschungsfragen legt die Medienentwicklung der 2000er Jahre nahe?
  • Welche Leistungen lassen sich nennen, wenn man eine Bilanz der Medienethik seit Ende der 1990er Jahre zieht?
  • Wie müss­ten diese weiter entwickelt werden? Welche Begriffs- und Theoriebildungen werden in der Folge nötig und wie könnte eine effiziente Medienregulierung aussehen?
  • Welche internationalen und globalen Aspekte gilt es zu berücksichtigen?
  • Welcher Methoden bedarf eine zeitgemäße Kommunikations- und Medienethik in theoretisch-normativer, meta-ethischer und in anwendungsorientierter Ausrichtung?
  • Wie wirkt sich dies auf die Ausbildung und Professionalisierung von Medienschaffenden, aber auch auf die Vermittlung von Medienkompetenz und Medienbildung aus?
  • Und was wäre unter einer medienethischen Kompetenz zu verstehen?

Den ausführlichen Call for Papers mit weiteren Informationen erhalten sie hier. Die Veranstalter freuen sich auf Ihre Beitragsvorschläge (Einreichungsfrist: 15. Oktober 2012).




Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft
Der Bundestag hat in einer Kernzeitdebatte über den Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" beraten. Schwerpunkte waren die bereits abgeschlossenen Projektgruppen Medienkompetenz, Datenschutz/ Persönlichkeitsrechte, Netzneutralität und Urheberrecht.
padeluun ist einer der Vorsitzenden des Datenschutzvereins foebud, Mitarbeiter im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und einer der Organisatoren, bzw. Jurymitglied der deutschen Big Brother Awards. padeluun beschäftigte sich mit der Weiterentwicklung einer Software für das Z-Netz und das CL-Netz, zwei der in den 1990er Jahren in Deutschland bedeutendstenMailbox-Netze. Der foebud betrieb selbst die Mailbox BIONIC als einen der Knotenpunkte des Z-Netzes. open-enquete

Netzwelt-Interview mit Padeluun vom Big-Brother-Award-Veranstalter FoeBuD e.V. zu RFID-Schnüffelchips

In Netzwelt-Artikeln ist immer wieder die Rede vom FoeBuD e.V., besonders dann, wenn es um Datenschutz und RFID geht. Doch wer sind die Veranstalter des deutschen Big-Brother-Awards? Wir befragten Padeluun, Gründungsmitglied des FoeBuD e.V. nach dem Verein und den Gründen für das Engagement gegen RFID. Leider war Padeluun sehr in Eile und hielt sich deshalb bei der Beantwortung einiger Fragen sehr zurück.

Was bedeutet eigentlich FoeBuD?

Padeluun: "FoeBuD ist die Abkürzung für 'Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs' und ist ein eingetragener Verein."

Wann und wo wurde der FoeBuD e.V. gegründet und wie kam die Idee zu dem Verein?

Padeluun verwies uns bei diesen Fragen auf die Website des FoeBuD e.V.: Die frühesten Wurzeln des FoeBuD e.V. gehen bis ins Jahr 1985 zurück und haben ihren Ursprung in einer Kunstgalerie. Bei Art d'Ameublement in Bielefeld wurde 1985 das erste Mal ein Computerclub als Kunstwerk ausgestellt.   mehr



Brasilien: Widerstand gegen
Belo-Monte-Kraftwerk geht weiter

Indigene und Umweltschützer gegen gigantisches Stausee-Projekt am Xingu

Thomas Barth, 10.Mai 2012

Brasilien bleibt auch unter der Hoffnungsträgerin Dilma Rousseff bei einem problematischen Großprojekt: Das Wasserkraftwerk Belo Monte  ist das drittgrößte weltweit –nach dem Drei-Schluchten-Staudamm in China und dem binationalen Itaipu-Werk an der Grenze Brasiliens zu Paraguay. Am Rio Xingu (sprich: Tschingu), einem großen Nebenfluss des Amazonas, wird seit den 80ern, der Zeit der Militärdiktatur, gegen eine Kultur- und Naturvernichtung gigantischen Ausmaßes gekämpft. In Gefahr sind einzigartige indigene Völker (bis zu 50.000 Menschen) und ein unvergleichliches Biotop, dennAmazonien beherbergt bis zu einem Drittel der Tier- und Pflanzenarten weltweit.

Brasilien verfolgt weiter die Strategie, den massiven Ausbau der Wasserkraft zu einem Motor der Industrialisierung zu machen. Doch Kritiker weisen daraufhin, dass die Menschenrechte der Indigenen verletzt werden, dass womöglich ein Ethnozid durch Krankheiten und Abschiebung in Slums droht, dass Naturschätze unwiederbringlich vernichtet werden. Im letzten Jahr konnten Kläger das Bauprojekt trotz Genehmigung durch diebrasilianische Umweltbehörde  stoppen, doch nur für drei Monate. Bundesrichter Carlos Eduardo Castro Martins sah keine juristischen Gründe, die Arbeiten am drittgrößten Wasserkraftwerk der Welt im Bundesstaat Para weiter zu verzögern. Trotz anhaltender Proteste auch vonprominenten Künstlern wieRegisseur James Cameron, Rocksänger Sting und Alien-Jägerin Sigourney Weaver wurden Blockaden der "Transamazonica"-Überlandstraße von der Polizei geräumt.

Aktuell erreicht ein neuer Dokumentarfilm von Martin Keßler die deutsche Öffentlichkeit: „Count – Down am Xingu II“ (61 min), offiziellePremiere ist am 9.5.2012 im Berliner Kino Babylon. Keßler bereiste erneut Brasilien und führte zahlreiche Interviews, dokumentiert in eindringlichen Bildern Naturzerstörung und Widerstand. Die Kamera geht nahe an die Menschen heran, fängt ihre Emotionen ein, zeigt die indigene Kultur der Arara, einem Fischervolk am Xingu, ohne sich in farbiger Folklore zu ergehen. Vielmehr beherrschen Bilder vom Widerstand den Film: Demonstrationen, Aktionen gegen die Bulldozer des Energiekonsortiums, politische Debatten.

Zu Wort kommt vor allem der Bischof von Altamira, Dom Erwin Kräutler, der vor Ort Widerstand leistet und 2009 den alternativen Nobelpreis für seinen Einsatz im Dienste der Indigenen und der Natur Brasilien erhielt. Kräutler hält derzeit Vorträge in seiner Heimat Vorarlberg   (Österreich) und beklagt im Film die Wortbrüchigkeit der Betreiberfirma Norte Energia bzw. des Konzerns Eletronorte/Eletrobras, die sich ihrerseits über die Aggressivität der Indigenen beschweren  andererseits auf ihren Respekt für indigene Gemeinschaften hinweisen.

Bischof Kräutler hält dagegen, dass es Norte Energia gelungen sei, die Opfer der Umsiedlungen zu entzweien, in dem einige mit (relativ bescheidenen) Abfindungen und fragwürdigen Versprechungen geködert wurden. Regierung und Konzerne verschanzten sich hinter einer Mauer des Schweigens und der Desinformation. Kräutlers Einsatz ist es vermutlich zu verdanken, dass der europäische Widerstand gegen Belo Monte bislang hauptsächlich in Österreich stattfindet, aber das soll sich nun ändern. Denn es sind auch maßgeblich deutsche Firmen mit ihren Interessen vertreten: Siemens, Voith Hydro und Mercedes werden genannt.  Die Lügen der Regierung werden angeklagt, das Kraftwerk wäre nötig für Elektrizität, die das brasilianische Volk dringend brauche –in Wahrheit würde mit dem billigen Strom Aluminium hergestellt. Ein Werbespot von Mercedes verdeutlicht, worum es wirklich gehen könnte: Schnellere Luxuskarossen dank „full aluminium body“. Die Aussage ist klar: Menschenrechte und Naturschätze stehen hier gegen den Komfort von ein paar Privilegierten.

In Keßlers Doku kommen viele Aktivisten und Indigene zu Wort, die sich nicht mit Abfindungen begnügen wollen, wie die junge Sheila Juruna Machado,  die vor allem ihrer Enttäuschung über die Justiz Luft macht: Sie glaube nicht mehr an die Gerechtigkeit in Brasilien. Im Interview mit dem etwas betreten wirkenden Staatsanwalt von Altamira, Claudio Terrdo Anaral, wird die einseitige Rechtsprechung deutlich. Auch Bischof Kräutler beklagt Gefälligkeitsurteile zugunsten der Wirtschaftsinteressen, Prozessverschleppung und Rechtsbeugung zur zügigen Fortführung des Bauprojekts. Gezeigt werden Bäuerinnen, Fischer, Bootsbauer, Dorfbewohner vor der Kulisse ihrer zerstörten Häuser. Dem Argument, es würden bei diesen gewaltigen Erdarbeiten, die jene beim Bau des Panamakanals übersteigen, 100.000 Arbeitsplätze geschaffen, begegnet der Film mit der Dokumentation schlechter Arbeitsbedingungen.

Im Fazit handelt es sich um ein von der Regierung in Brasilia geduldetes und gefördertes Wirtschaftsverbrechen, weshalb   die Doku Fördermittel unter anderem vom Verein „Business Crime Control“ BCC (einer nicht-unternehmensnahen Alternative zu „Transparency International“) erhielt. Der Film schließt mit dem Statement, der Filmemacher fühle sich im nachhinein wie ein Kriegsberichterstatter –eines Krieges der Wirtschaft gegen die Umwelt und die Menschen.

Thomas Barth ist als Diplom-Kriminologe Mitglied von BCC und (Mit-) Autor der Bücher

Finanzkrise, Medienmacht und Corporate Governance: Korruptionsbekämpfung in der Europäischen Union. Kriminologische, gesellschaftsrechtliche und ethische Perspektiven (2009)

Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise (Altvater u.a., 2010)

 publiziert in Berliner Gazette unter dem Titel:

Kampf um das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt

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WikiLeaks, journalistische Ethik

und die Verantwortung der Medien

Thomas Barth   9/2011  

WikiLeaks ist hervorgegangen aus und tief verwurzelt in der Hacker-Subkultur. Seit den Anfängen des Internet traten Hacker ein für freien Informationszugang aller bei vollem Schutz der Privatsphäre. Ihre natürlichen Widersacher waren die Geheimdienste, deren Job im großen und ganzen die umgekehrte Ausrichtung hatte. WikiLeaks bezeichnet sich in dieser Tradition auch als „Counter-Intelligence“ und „First Intelligence Agency of the People“ –als erster Geheimdienst des Volkes.

 

Die technologische Avantgarde der Hacker, deren ehedem esoterische Praxis der Online-Kommunikation heute die breite Masse zumindest der jüngeren Generationen erreicht hat, wurde von Anbeginn misstrauisch von den etablierten Medien beäugt. Heute ist sie selbstbewusst zur „Netzkultur“ gereift und ihr stehen neben staatlichen Institutionen auch die Medienkonzerne gegenüber, die von den neuen „Netzbürgern“ oft als „Content-Mafia“ gesehen werden. Kein Wunder, hat doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher so lange zu Verbrechern erklärt, bis sogar eine Piratenpartei in die politischen Arena stieg. Dabei sehen sich die Medien-Konzerne oft sogar als Säule der Demokratie und Pressefreiheit, vertreten aber zunehmend eigene Unternehmensinteressen. Der Antagonismus von Netzkultur und Medienindustrie schwingt unterschwellig mit, wenn etablierte Journalisten über Hackerprojekte berichten –besonders vielleicht, wenn diese –wie WikiLeaks– mit neuen Publikationsformen in die zentrale Sphäre des Nachrichtengeschäfts eindringen.

Am 1.9.2011 machte WikiLeaks, die Whistleblower-Plattform des weltberühmten Hackers Julian Assange, negative Schlagzeilen: Durch eine Sicherheitspanne wurden rund 250.000 US-Diplomaten-Depeschen aus dem WikiLeaks-Datenbestand im Internet zugänglich. Diese Depeschen sind, anders als bei vorherigen Depeschen-Publikationen, nicht redaktionell bearbeitet. Somit enthüllen sie womöglich unabsichtlich Namen von Informanten der US-Auslandsvertretungen. Die Aufregung in den Medien ist groß und der Ruf von WikiLeaks, durch einen Sex-Skandal um Assange bereits angeschlagen, droht nachhaltig beschädigt zu werden. Vielleicht werden sogar Internet-Enthüllungsplattformen, die bereits als neue, den herkömmlichen Journalismus ergänzende Form der öffentlichen Aufklärung gesehen wurden, generell in Frage gestellt. Die Vorwürfe lauten, WikiLeaks würde den Informantenschutz und die journalistische Ethik bzw. Sorgfalt vernachlässigen.

Beide Vorwürfe erweisen sich jedoch bei genauerer Betrachtung als zumindest fragwürdig. Was war geschehen? Bei der Weitergabe der Botschafts-Depeschen hatte WikiLeaks zunächst ein verschlüsseltes Datenpaket gepackt und dieses im Internet in Umlauf gebracht. Ziel war, die Daten auf zahlreichen verteilten Rechnern vor dem physischen Zugriff von Polizei, Militär und Geheimdiensten in Sicherheit  zu bringen. Die spätere Jagd auf Assange mittels eines unter zweifelhaften Umständen zustande gekommenen Haftbefehls von Interpol zeigt, dass diese Befürchtungen nicht unbegründet waren.

Die so verschlüsselten Daten gelangten in die Hände der drei ausgewählten Presseredaktionen von „Spiegel“, New York Times und Guardian. Später übergab dann Assange den Redakteuren das geheime Passwort, so dass diese die Pakete öffnen und auswerten konnten. Soweit so gut. Doch zwei Journalisten vom Guardian publizierten 2010 auch ein Buch über die WikiLeaks-Geschichte und gaben dabei (versehentlich?) das Passwort  bekannt. Sie hätten geglaubt, so heute der Guardian, das Passwort sei nur zeitlich befristet gültig gewesen. Jeder Leser des Buches hatte nun die Möglichkeit, die zirkulierenden Datenpakete zu entschlüsseln und Identitäten von US-Informanten zu enthüllen.

Bei der Berichterstattung über den Vorfall ging im Folgenden vieles durcheinander. Die Tagesschau vom 1.9.2011 befragte in ihrem längeren Bericht einen ARD-Internetexperten, der kritisierte, eine Whistleblower-Plattform solle doch in der Lage sein, ihre Informanten zu schützen. In dieser Darstellung wurden also die hier betroffenen Informanten mit Whistleblowern durcheinander gebracht. Doch es geht in den Depeschen nicht um Enthüller, die öffentliche Aufklärung im Sinn haben, sondern um Zuträger der US-Administration, wie den FDP-Funktionär Metzner, der Internas aus den schwarzgelben Koalitionsverhandlungen verriet. Der Adressat für das Einklagen von Informantenschutz muss hier also nicht WikiLeaks, sondern die US-Administration sein. Es ist nebenbei bemerkt dieselbe US-Administration, die Assange zum Staatsfeind erklärte, ihm vermutlich die Konten sperren ließ, mutmaßlich seine Strafverfolgung wegen fadenscheiniger Vergewaltigungsanklagen und seine Auslieferung an die USA betrieb.

Gleichwohl könnten die Depeschen fatale Konsequenzen für Informanten haben, denn manche Zuträger der US-Botschaften müssen wohl mit bedrohlichen Konsequenzen rechnen –„in totalitären Ländern“, wie besorgte Kommentatoren der WikiLeaks-Datenpanne gern hinzufügten. Kaum einer erwähnte dabei jedoch einen Informanten von WikiLeaks selbst, der schon seit Mai 2010 leidet: Bradley Manning, der US-Soldat, der teilweise unter „harten“ Haftbedingungen in US-Militärgefängnissen gehalten wird (Menschenrechts-Organisationen sprachen von Folter), um ein Geständnis und eine Aussage gegen Assange zu erzwingen.

Die Manning zugeschriebenen Enthüllungen brachten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seitens der US-Truppen ans Licht. Sie zeigten den Krieg in Irak und Afghanistan, der uns oft als hehre Friedensmission mit chirurgischen Schlägen präsentiert wurde, in seiner ganzen Breite und Grausamkeit. Hinter der offiziellen Version von Wiederaufbau und Krieg gegen den Terror erkannten manche in den WikiLeaks-Dokumenten einen zweiten Krieg: Die Strategie, innerafghanische Kontrahenten i.S. von „teile und herrsche“ gegen einander auszuspielen; etwa die entgegen der offiziellen Entwaffnungspolitik zugelassene Aufrüstung von Usbekenführer Dostum, der 2006 mit Warlords der Nordallianz einen Putsch gegen Karsai plante. Dies konnte zwar der US-Führung nicht gefallen, rechtfertigt aber nicht die unmenschliche Behandlung eines mutmaßlichen Whistleblowers. Ob mit Bradley Manning nicht einfach ein unbequemer junger Soldat zum Sündenbock gemacht wurde, um Enthüller von US-Geheimnissen generell einzuschüchtern, weiß bis heute niemand.

Die Darstellung von Leistungen von WikiLeaks und Assange erscheint in den Medien oft personalisiert und wenig auf politische Hintergründe ausgerichtet, so in den auf Bestsellerlisten gehandelten Büchern „Staatsfeind WikiLeaks“ und „Inside WikiLeaks“. Doch auch wo fundiertere Analysen vorgenommen werden, bleibt eine voreingenommene Haltung des etablierten Journalismus spürbar. So wird in einer Studie zum Krisenjournalismus das berühmte Video, mit dem sich WikiLeaks überhaupt erst einen Platz in den Hauptnachrichten erkämpfte, recht einsilbig beschrieben: „...ein WikiLeaks-Video, das den Angriff auf eine Gruppe von Menschen in Bagdad aus der Cockpit-Perspektive eines Kampfhelikopters zeigt. Bei dem Angriff kamen auch zwei Reuters-Journalisten ums Leben.“ Sogar den mit Bedacht von Assange gewählten Titel des Videos verschwiegen die Autoren: „Collateral Murder“, obwohl sie wenige Seiten zuvor noch von der Krisenberichterstattung gefordert hatten, „Euphemistische Wendungen wie... ‚Kollateralschäden‘... sollten durchschaut und vermieden werden.“ (S.51) Assange & Co. hatten den Euphemismus nicht nur vermieden, sondern durchschaut und in seinem Zynismus entlarvt, aber dies wollten der Journalismus-Professor und sein Co-Autor wohl bei den Medien-Außenseitern von WikiLeaks nicht sehen. „Collateral Murder“ wurde gesendet und schnell vergessen, ebenso wie der Leidensweg des mutmaßlichen WikiLeaks-Informanten Bradley Manning.

Wichtiger als das reale Opfer Manning, scheinen deutschen Medien heute offenbar die infolge der Datenpanne möglichen Opfer der Publikation von US-Depeschen zu sein. Tatsächlich könnte man hier die Vernachlässigung journalistischer Ethik und Sorgfaltspflicht anführen. Aber gegen wen? Das Gros der Medien richtet seine Anklagen gegen Assange, etwa die Tagesschau vom 1.9.11. Sie berichtete zwar, „WikiLeaks beschuldigte einen Journalisten der britischen Zeitung Guardian“, das Passwort publiziert zu haben, ließ aber im restlichen Beitrag keinen Zweifel daran, dass man die Schuld für die Panne bei der Internet-Plattform zu suchen habe. Fazit: WikiLeaks sitzt auf der Anklagebank und beschuldigt, womöglich nur um sich selbst zu entlasten, den Guardian. Diesem Muster folgen die meisten Berichte, aber ist das wirklich eine faire Bewertung?

Journalisten forderten von WikiLeaks seit deren Erscheinen in der Öffentlichkeit Verantwortung, Ethik und journalistische Standards ein, die man übrigens in der breiten Masse des Boulevard-Journalismus vergeblich sucht. Aber was ist mit den Qualitäts-Journalisten des britischen Traditionsblattes Guardian? Sollte eine naheliegende Frage nicht lauten: Welcher Teufel hat die Buchautoren geritten, ausgerechnet das echte Passwort in ihrer Reportage zu publizieren? Ein fanatisches Streben nach Authentizität um jeden Preis? Pure Trägheit, sich eine vergleichbare Phrase auszudenken? Für den Leser hätte ein Ersatzwort das Buch sicher nicht schlechter gemacht, für US-Informanten kann diese Unachtsamkeit der Autoren jedoch fatale Folgen haben.

Die Guardian-Schreiber hätten wissen müssen, dass die verschlüsselte Datei mit den Depeschen überall im Netz zirkuliert, und dass sie mit diesem Passwort jeder würde öffnen können. Wäre es nicht ihre journalistische Sorgfaltspflicht gewesen, die Ungefährlichkeit ihrer „Enthüllung“ mit Assange abzuklären? Stattdessen konstruieren jetzt die medialen Ankläger eine kryptologische Bringschuld von Assange, auch in der Zusammenarbeit mit der bei diesem Projekt engstens verbündeten Presse jederzeit höchstes Misstrauen einkalkulieren zu müssen. Assange hätte die zirkulierenden Sicherungskopien mit anderen Passwörtern verschlüsseln, die Passwörter mit einer Zeitbegrenzung versehen müssen usw. lauten die im Nachhinein besserwisserisch erhobenen Forderungen. Aber hätten nicht auch die seriösen Qualitäts-Journalisten und Buchautoren des Guardian einkalkulieren müssen, dass dem um den Globus gehetzten Assange und seiner zusammengewürfelten Hackergruppe Fehler unterlaufen könnten?

Der Hacker-Subkultur selbst scheinen –bei aller Hochachtung vor den Leistungen von Julian Assange– die mit seiner Person und auch mit der Fixierung auf einen „einsamen Helden“ verbundenen Gefahren bewusst zu sein –doch Verantwortung wird dort vor allem von der Presse eingefordert. Deren zunehmendes Einknicken vor den Interessen herrschender ökonomischer und Machteliten wird von Hackern vielmehr als Hauptargument für die Notwendigkeit von Plattformen wie WikiLeaks angeführt.  /Thomas Barth

 Quellen:

 Barth, Thomas, Virtueller Vandalismus, Blätter 4/2000, S.416-420.

   Vgl. Spoo, Eckart, Pressekonzentration und Demokratie, in: Barth, T. (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.23-34, S.23ff.

 Vgl. Thörner, Marc, Wikigate: Der geheime Krieg, Blätter f.dt.u.int. Politik,  Nr.9, 2010, S.5-9, S.6f.

 Weichert, Stephan u. Leif Kramp, Die Vorkämpfer: Wie Journalisten über die Welt im Ausnahmezustand berichten, Köln 2011, S.65.

 Vgl. Rueger, Gerd R., Julian Assange –Die Zerstörung von WikiLeaks? Anonymous..., Hamburg 2011, S.78.

 

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Gesellschaftskritik: Hartz-IV-Traumatisierung, Burn-Out

und die Verantwortung der psychosozialen Berufe

Thomas Barth (April 2012, eingereicht bei  Psychologie & Gesellschaftskritik abgelehnt Mai, überarbeitet und erneut eingereicht Juni 2012)

 

„Arbeitslos unter Hartz IV zu sein bedeutet, dass dies massiv in die Beziehungen selbst eindringt –selbst oder gerade auch in nähere, bedeutsame. Die Zerstörung der verbalen Mitteilungsfähigkeit ist ein zentrales Moment jeglicher Traumatisierung und Missbrauchserfahrung (...) Gesichertes Wissen ist, dass der Verlust der Arbeitsstelle zu den Erfahrungen gehört, die den höchsten Stressfaktor aufweisen. Diese Tatsache wurde nicht nur von den empirischen Sozialwissenschaften aufgezeigt, sondern die relevanten Symptome entsprechen auch den Trauma-Kriterien der modernen Psychotraumatologie.“ Dipl.-Psych. Barbara Ellwanger 2009, S.156 f.

 

In die kühle Frühlingsluft des Osterfestes 2012 drang jüngst eine Nachricht ein, die eine ganz andere Art von Kühle signalisierte –eine soziale Eiseskälte. Im Bereich der Hartz-IV-Empfänger, so die lapidare Meldung, sei es zu einem neuen Höchststand von „Absenkungen der Regelsatzzahlungen“ gekommen. Hauptgrund wären „nicht wahrgenommene Einladungen“ der Behörden gewesen. Mit dem „Regelsatz“ ist jene das Existenzminimum markierende Zahlung gemeint, von der Langzeit-Arbeitslose ihr Dasein fristen müssen: Ein Existenzminimum, welches so definiert ist, dass es gerade noch eine dem Recht auf Menschenwürde genügende Teilhabe am Reichtum unseres Landes ermöglicht. Mit deren als Maßnahme zur Disziplinierung üblichen Absenkung wird routinemäßig die soziale Teilhabe unter diese Grenze gedrückt.

Mit „Einladungen“ sind folglich wohl eher Vorladungen gemeint, strafbewehrt mit der Drohung des Verlustes eines letzten Restes an Menschenwürde. Die Schuld für verpasste Termine solcher Vorladungen wird routinemäßig bei den Hartz-IV-Beziehern gesucht, nicht bei der Postzustellung oder der Behörde. Die mit solchen teils drakonischen Einkommenskürzungen bestraften Menschen leben am untersten Rand unserer Gesellschaft, sind oft über Jahre hin ökonomisch ausgeblutet. Sie mussten alle Guthaben und Wertgegenstände ihres Familienbesitzes aufzehren, haben alle Möglichkeiten an Hilfe und Kredit aus Familie und Freundeskreis bis zur Schmerzgrenze ausgereizt. Doch die öffentlichen Kassen, so heißt es, sind leer, die Ämter müssen sparen. Die Behörden sind angehalten, bei Hartz-IV-Beziehern ständig nach „Missbrauch“ von Leistungen, mangelnder Arbeitsbereitschaft und fehlender Disziplin zu suchen. Barbara Ellwanger kontert diesen Generalverdacht mit dem Vorwurf von Missbrauch der Behörden, begangen an ihren Schutzbefohlenen. Misstrauen und Kontrollsucht haben sich stetig verschärft, wobei sich Praktiken eingeschliffen haben, die an Drangsalierung und Schikane grenzen,

 

„...jene Praktiken, die erforderlich sind, um selbst noch die Regelsatzzahlung auf Teufel komm raus um weitere 30 oder 60 oder auch 100 Prozent ‚abzusenken‘. Diese Kürzungen gehören inzwischen so sehr zur gängigen Praxis, dass die blanke Willkür dabei immer unverhüllter herrscht und die Überschreitung der gesetzlichen Bestimmungen sanktions- und folgenlose Routine geworden sind.“ Dipl.-Psych. Barbara Ellwanger ebd.

 

Die offizielle Begründung, dies sei nötig, weil die Kassen leer seien, ist wenig glaubwürdig. Denn leer sind diese Kassen vor allem aufgrund der neoliberalen Privatisierungen und ungeheurer Steuergeschenke an Unternehmen und Wohlhabende: In den OECD-Ländern steigerten die Unternehmensgewinne seit den 90er-Jahren ihren Anteil an der Nettowertschöpfung von 33 auf 43% der volkswirtschaftlichen Leistung –auf Kosten sinkender Reallöhne. Niemand bestreitet das Vorhandensein ungeheuren Reichtums in unserer Gesellschaft, aber kaum jemand darf öffentlich von ihm reden –und schon gar nicht im Zusammenhang mit leeren Kassen, korrupter Politik und verelendeten Hartz-IV-Beziehern. Die Macht der Arbeitgeber wuchs in den letzten Dekaden, die Gewerkschaften knickten immer wieder ein. Angst vor Armut und Arbeitslosigkeit packte die Menschen, auch und gerade durch das Hartz-IV-Regime. Stramm durchgesetzter Lohnverzicht hier, explodierende Spitzeneinkommen dort, derweil die Einkommensschere immer weiter auseinander klafft und 2-4 Millionen Kinder prekarisierter Leiharbeiter bereits wieder hungrig zur Schule gehen mussten. Alles nur unabwendbares Schicksal im harten Wind des Wettbewerbs der gebetsmühlenartig gepredigten Globalisierung?

Spätestens die Finanz- und Bankenkrise ließ dabei den Verdacht aufkommen, bei einem Teil der kräftigen Umverteilung von unten nach oben ginge es nicht mit rechten Dingen zu. Es war Georg Schramm der unter der Narrenkappe des Kabarettisten als einziger in der Mainstream-Medienlandschaft gelegentlich auf eine ansonsten totgeschwiegene Entwicklung hinwies: Trotz stetig wachsender deutscher Wirtschaftsleistung stiegen seit den 90er-Jahren ausschließlich die Einkommen der obersten 10%, alle anderen stagnierten oder mussten, besonders die unteren 50% schmerzhafte Einschnitte hinnehmen. Diese Reallohnkürzung wurde durchgesetzt obwohl immer höhere Arbeitsleistungen verlangt wurden. Der Arbeitsstress wuchs, die Arbeitsverdichtung wurde gesteigert –auch dank neuer Kontrolltechnologien–, psychische Störungen nahmen zu: Die medial phasenweise beklagte „Volksseuche Burnout“ wird mit dem Verteilungs-Unrecht selten in Verbindung gebracht. Bei den untersten 10%, den Arbeitslosen, höchstens prekär Beschäftigten, sieht es noch schlimmer aus, herrscht wachsendes Elend, Hoffnungslosigkeit, selbst Hunger –spätestens die zehntausendfach verhängten „Absenkungen der Regelsatzzahlungen“ treiben die Behördenopfer in Armenküchen der „Tafeln“.

In der Arbeitswelt traten seit den 90ern vermehrt Management-Berater auf. statt betrieblicher Mitbestimmung („traditionelle Strukturen“) sollten die Beschäftigten nun nach der Ideologie des Neoliberalismus sogenannte „Eigeninitiative und Selbstverantwortung“ üben –verdichtet zur „Eigenverantwortung“. In diesem Sinne hieß es zu den massenhaft Entlassenen: „Selber Schuld“. Arbeitsplatzvernichtung nach dem Rasenmäher-Prinzip, die übrigen sollen eben mehr arbeiten, unbezahlte Überstunden und Lohnverzicht üben, sonst geht ihr Betrieb pleite und sie fallen ins Hartz-IV-Elend. Im Namen der Globalisierung enteignete Schröders rotgrüne „Agenda 2010“ Arbeitnehmer endgültig ihrer Rechte und schuf die schöne neue Arbeitswelt als Drei-Klassen-Gesellschaft: Zwischen den Lohnabhängigen und dem lohndrückenden Reserveheer der Arbeitslosen wurde das Prekariat installiert, die Working-Poor. Waren Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrer im Widerstand gegen diese Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung wirklich genug engagiert? Wäre entschiedener politischer Widerstand nicht ihre moralische Pflicht gewesen? Hat sich nicht sogar manch einer vor den Karren neoliberal-reaktionärer Kampagnen spannen lassen, der es eigentlich besser hätte wissen können? Etwa der Unterzeichner der dünkelhaft-elitären Pro-Agenda-2010-Kampagne „Auch wir sind das Volk“, Nobelpreisträger und SPD-Barde Grass, der sich gern für Indien und Nahost engagiert, daheim aber das Hartz-IV-Regime stützte.

 

„Ein Skandal ist deshalb, dass noch keiner derjenigen Berufsverbände, die im weiteren oder engeren Sinn mit Fragen des psychosozialen Bereichs und der Ethik befasst sind, diesen üblen Grenzüberschreitungen entgegengetreten ist und sich für die fundamentalen Persönlichkeitsrechte schwacher, ja in jedem Fall sich in einer Notlage befindlichen Bürger eingesetzt hat. (...) Darf ein gesellschaftliches Leitbild des ‚nach unten Tretens/nach oben Buckeln‘ weiterhin das Leitbild der einschlägigen Berufsverbände bleiben?

Ein Skandal ist auch das anhaltende Schweigen der  Gruppen und Verbände der psychosozialen Kernberufe. Sie können nicht nur die epidemiologischen Folgen der zunehmenden Verarmung erkennen, sondern sind zudem Zeugen einer Verelendung politischer Entscheidungsgrundlagen.“ Dipl.-Psych. Barbara Ellwanger ebd.

 

Wie konnte ausgerechnet ein SPD-Kanzler, noch dazu in Koalition mit den Grünen, die Rechte der arbeitenden Bevölkerung derartig mit Füßen treten? Eine mögliche Erklärung liegt in den Medien, insbesondere bei einem Medienkonzern: Bertelsmann, Hauptsitz Gütersloh. Dieser größte europäische Mediengigant genießt bis heute bei politisch engagierten Bürgern einen guten Ruf, bei Medienkonzentration und Bewusstseinsindustrie denkt man immer noch eher an Springer. Mit Bertelsmann werden eher die Buchclubs, Verlage und Zeitschriften (Spiegel, Stern, Geo etc.) identifiziert und weniger sein  Kerngeschäft der schmuddeligen RTL-Senderfamilie. Erst 1998 konnte der Historiker Hersch Fischler in Archiven Beweise sichern, die Bertelsmann als Komplizen der Goebbelsschen Propaganda enttarnten. Dem Konzern gelang es jedoch, eine öffentliche Wahrnehmung seiner NS-Vergangenheit nahezu zu verhindern: Erst über Publikationen in der Schweiz und den USA konnte Fischler seine Reportage wenigstens punktuell in die deutsche Medienwelt bringen. Bertelsmanns Macht reicht weit, auch bis in öffentlich-rechtliche Sendeanstalten hinein, mit deren Top-Management ein munteres Personalkarussell betrieben wird.

Dem Konzern genügte jedoch die Medienmacht nicht, er baute seine Unternehmensstiftung zu einem führenden deutschen Think Tank nach US-Vorbild aus. Heute gibt es kaum ein Politikfeld, auf dem die Bertelsmann-Stiftung –aus Steuergründen inzwischen Haupteignerin des Konzerns– sich nicht einmischt: Durch tendenziöse Studien, mediale Kampagnen, meist aber durch stille Lobbyarbeit hinter den Kulissen. Studiengebühren, Rentenprivatisierung, Sicherheitspolitik und auch der Arbeitsmarkt sind strategische Wirkungsfelder der Gütersloher Lobbyarbeit, die auch Parteien (SPD, Grüne) und Gewerkschaften z.B. mit neoliberalen Bildungskonzepten infiltrierte. Vernetzung mit Parteien und Gewerkschaften erleichterten auch die Politikberatung der Regierung von Gerhard Schröder, den nicht zuletzt Spiegel, Stern und RTL zum „Medienkanzler“ stilisiert hatten.

Ab dem Jahr 2000 lancierte Bertelsmann Studien zur angeblichen Notwendigkeit der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe (Hartz IV); 2003 beglückte Gütersloh die Politik mit dem Grundkonzept für die Job-Center (Hartz III); die Konzeption der Personal-Service-Agenturen (Hartz I) erarbeitete Bertelsmann gemeinsam mit McKinsey und der Bundesanstalt für Arbeit. Ein mediales Trommelfeuer gegen die bisherige Arbeitsmarktpolitik setzte pünktlich zum Wahlkampf 2002 die Regierung Schröder unter Druck –die damals zum „Vermittlungsskandal“ aufgeblasene statistische Mogelei der Bundesanstalt für Arbeit erscheint heute als Petitesse: Was sind ein paar geschönte Statistiken gegen die Schneise der strukturellen Gewalt und des sozialen Elends, die von den Hartz-Reformen in das untere Drittel unserer Gesellschaft geschlagen wurde?

Hartz IV setzt die gesamte arbeitende Bevölkerung, soweit nicht als unkündbare Beamte vor Arbeitslosigkeit geschützt, unter die Drohung des sozialen Absturzes ins Bodenlose. Haus, Wohnung, Lebensversicherung sind vom Langzeitarbeitslosen aufzuzehren, bevor er eine Art reduzierte Sozialhilfe bekommt, die anstelle der früheren Arbeitslosenhilfe getreten ist. Kritiker sprechen von einer brutalen Enteignung von Arbeitnehmerrechten, Unternehmen freuen sich über billige Leiharbeiter und die Medien jubeln über eine „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik: Mit solch einer Drohkulisse im Nacken lassen sich abhängig Beschäftigte auspressen wie nie zuvor –Burnout und andere psychosoziale Probleme sind die Folge. Nebenbei wird ein Überwachungsregime für die ökonomisch Benachteiligten installiert, das dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Hohn lacht: Hartz-IV-Behörden schnüffeln heute im Privatleben der Arbeitslosen nicht nur nach Anzeichen für Schwarzarbeit, sondern auch nach versetzbaren Wertgegenständen, möglicherweise unterhaltspflichtig zu machenden Sexualpartnern und selbst nach auf der Straße erbetteltem Kleingeld. Mit der behaupteten Not der staatlichen Kassen oder der Schaffung von Gleichbehandlung hat diese Praxis nichts zu tun. Mit weit geringerem Aufwand wäre bei Steuerhinterziehern sehr viel mehr zu holen und sehr viel mehr Gerechtigkeit zu schaffen, doch das wird von den Ideologen der Steuersenkung nicht gewollt. Es geht um die politische und administrative Durchsetzung von Disziplinierung, ja geradezu menschenverachtender Dehumanisierung.

Weite Teile im unteren Drittel unserer Gesellschaft leben mit steigenden Bedrohungen ihres täglichen Auskommens, ihrer Teilhabe am kulturellen Leben und ihrer Gesundheit, von ihrer Menschenwürde ganz zu schweigen. Wir müssen befürchten, dass die Reichtumssteigerung künftig immer unverschämter unter Aufbietung aller denkbaren legalen, korruptiven und kriminellen Mittel betrieben wird. Die dabei zu verzeichnende Verstrickung von korrumpierten Medien mit einer Politik, die sich willig von Lobbyisten zu Vollstreckern dunkler Interessen machen lässt, verdient es durchaus, unter dem Aspekt der Makrokriminalität unter die Lupe genommen zu werden. Wo politische Korruption und Wirtschaftskriminalität wie Zahnräder eines gut geschmierten Mechanismus ineinandergreifen, da entstehen Gesetze, die nur noch formal demokratisch zustande gekommen sind. Aus diesen Gesetzen von Lobby- oder Schmiergelds Gnaden entwickelt sich ein Staat, der zwar keine Kriegsverbrechen und Völkermorde, wohl aber Wirtschaftskriminalität großen Stils legitimiert und dessen Regime mit dem Begriff Makro-Korruption treffend beschrieben sein mag.

Makrokriminalität setzt voraus, dass im staatlich installierten Unrechtsregime moralische Bedenken der Täter „neutralisiert“ werden. Eine der Neutralisierungstechniken, die Jäger untersuchte, lag in der Dehumanisierung der Opfer durch Abwertung, Stigmatisierung und Entmenschlichung.  Wie können wohl die Verlierer der neoliberalen Umverteilungspolitik, die Outsourcing-Opfer, tarifvertragslose Working Poor, Arbeitslose, Ein-Euro-Jobber, angesichts ihrer schrumpfenden finanziellen und Handlungsspielräume das ständige Reden in den Medien von mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung verstehen: Nur als Abwertung und Stigmatisierung oder schon als Entmenschlichung? Und sind Psychologen und Psychologinnen gegen ein Mitläufertum bei dieser Dehumanisierung resistenter als andere? Einfach und bequemer ist es allemal, sich als „nicht zuständig“ ins Private abzuwenden oder sogar die Medienparolen nachzuplappern.

 

„Diese ganze Verrücktheit aushalten zu müssen, sich gegen sie psychisch zu organisieren, ist für ALG II-Bezieher –zusammen mit dem täglichen Leben unterm Existenzminimum, der hoffnungslosen Zukunftsaussicht, der sozialen Isolation und Stigmatisierung– ein weiteres traumatisierendes Erleben. Zeuge zu sein, wie sich beim Thema Hartz IV reihenweise diejenigen in Marie Antoinettes verwandeln (‚Wenn ihr kein Brot habt, dann esst doch Kuchen!‘), von deren hinreichender Vernunft und durchdachtem politischen Handeln man abhängig wäre, ist sicher nicht nur für die unmittelbar Betroffenen schockierend.“ Dipl.-Psych. Barbara Ellwanger ebd.

 

Im Gegensatz zu Steuerhinterziehern, zweifelhaften Lobbyisten und korrupten Entscheidungsträgern brauchen die medial gehetzten „Sozialbetrüger“ nicht lange auf ihre Kriminalisierung zu warten. Die Behörden sind eigentlich für die Wahrung der Menschenwürde ihrer zu „Kunden“ geadelten Hartz-IV-Bezieher verantwortlich. Doch wird ihren Mitarbeitern im Rahmen rigoroser Sparprogramme als oberstes Ziel die Eindämmung angeblich überhand nehmenden „Missbrauchs“ von Sozialleistungen eingehämmert. Auf RTL & Co. zeigt Bertelsmann täglich die pöbelnden Proleten, die ihre Kinder verwahrlosen lassen, ihr Geld für Bier und dicke Plasma-Fernseher verplempern und so dumm sind, wie die Machteliten das Volk gerne hätten. Die Botschaft: Ein solches Pack darf man ruhigen Gewissens nach Strich und Faden ausbeuten –mit diesem Stereotyp im Kopf mag sich der sensible Nobelpreis-Literat Grass lieber indischen Kindern und drangsalierten Palästinensern zugewandt haben, was ehrenwert ist, aber sein Mitlaufen bei Bertelsmann-Kampagnen für Hartz-IV nicht rechtfertigen kann. Warum fanden sich allzu lange für solche Propaganda-Sendungen auch noch Psychologen und Psychologinnen,