Philosophie

"Weil über uns, die wir diese freie Wahl treffen, weil über unsere freie Wahl, bereits verfügt ist. Denn daß wir als Rundfunk-, bzw. Fernsehkonsumenten die Wahl zu treffen haben: als Wesen also, die dazu verurteilt sind, statt Welt zu erfahren, sich mit Weltphantomen abspeisen lassen; und die Anderes, selbst andere Arten von Wahlfreiheit, schon kaum mehr wünschen, andere sich vielleicht schon nicht einmal mehr vorstellen können — darüber ist bereits entschieden.

Als ich diesen Gedanken auf einer Kulturtagung ausgesprochen hatte, kam der Zwischenruf, schließlich habe man doch die Freiheit, seinen Apparat abzustellen, ja sogar die, keinen zu kaufen; und sich der „wirklichen Welt" und nur dieser zuzuwenden. Was ich bestritt. Und zwar deshalb, weil über den Streikenden nicht weniger verfügt ist als über den Konsumierenden: ob wir nämlich mitspielen oder nicht — wir spielen mit, weil uns mitgespielt wird. Was immer wir tun oder unterlassen — daß wir nunmehr in einer Menschheit leben, für die nicht mehr „Welt" gilt und Welterfahrung, sondern Weltphantom und Phantomkonsum, daran ist ja durch unseren Privatstreik nichts geändert: diese Menschheit ist nun die faktische Mitwelt, mit der wir zu rechnen haben; und dagegen zu streiken, ist nicht möglich. — Aber auch die sogenannte „wirkliche Welt", die der Geschehnisse, ist durch die Tatsache ihrer Phantomisierung bereits mitverändert: denn diese wird ja bereits weitgehend so arrangiert, daß sie optimal sende-geeignet ablaufe, also in ihrer Phantom-Version gut ankomme. — Vom Wirtschaftlichen ganz zu schweigen. Denn die Behauptung, „man" habe die Freiheit, derartige Apparate zu besitzen oder nicht, zu verwenden oder nicht, ist natürlich reine Illusion. Durch freundliche Erwähnung der ,menschlichen Freiheit' laßt sich das Faktum des Konsumzwanges nicht aus der Welt schaffen (...)

Was von diesen Geräten gilt, gilt mutatis mutandis von allen. Daß sie noch „Mittel" darstellen, davon kann keine Rede sein. Denn zum „Mittel" gehört wesensmäßig, etwas Sekundäres zu sein; das heißt: der freien Zielsetzung nachzufolgen; ex post, zum Zwecke der „Vermittlung" dieses Ziels, eingesetzt zu werden. Nicht „Mittel" sind sie, sondern „Forentscheidungen'' : Diejenigen Entscheidungen, die über uns getroffen sind, bevor wir zum Zug kommen. Und, genau genommen, sind sie nicht „Vorentscheidungen"; sondern die Vorentscheidung. Jawohl, die. Im Singular. Denn einzelne Gerate gibt es nicht -Das Ganze ist das Wahre. Jedes einzelne Gerat ist seinerseits nur ein Geräte-Teil, nur eine Schraube, nur ein Stück im System der Geräte; ein Stuck, das teils die Bedürfnisse anderer Geräte befriedigt, teils durch sein eigenes Dasein anderen Geräten wiederum Bedürfnisse nach neuen Geräten aufzwingt. Von diesem System der Geräte, diesem Makrogerät, zu behaupten, es sei ein „Mittel", es stehe uns also für freie Zwecksetzung zur Verfügung, wäre vollends sinnlos. Das Geratesystem ist unsere „Welt". Und „Welt" ist etwas anderes als „Mittel". Etwas kategorial anderes."

Günther AndersAntiquiertheit Bd.1, Einleitung

"Einerseits scheinen sie wirklich „gegenwärtig" zu sein: Wenn wir die Radiosendung einer Kriegsszene oder einer Parlamentsverhandlung mit anhören, dann hören wir ja nicht nur Meldungen über die Explosionen oder über die Redner sondern diese selbst. — Bedeutet das nicht, daß die Ereignisse, die wir früher weder mitmachen konnten noch durften (noch mußten), nun wirklich bei uns sind ? Und wir bei ihnen?

Und doch auch wieder nicht. Denn ist das lebendige Gegenwart, wenn zwar den Stimmen der Welt der Zugang zu uns freisteht, wenn diese zwar dazu berechtigt sind, bei uns zu sein; wir dagegen rechtlos bleiben und bei keinem der gelieferten Ereignisse eine Stimme haben ? Wenn wir niemandem, wer auch immer spricht, antworten können, selbst dem nicht, der uns anzusprechen scheint; und in kein Ereignis, dessen Lärm uns umtost, eingreifen dürfen? Gehört es nicht zur wahren Gegenwart, daß die Beziehung Mensch-Welt gegenseitig sei? Ist diese Beziehung hier nicht amputiert? Ist sie nicht unilateral geworden: nämlich so, daß dem Hörer zwar die Welt, er ihr dagegen nicht vernehmbar ist? Bleibt er nicht grundsätzlich zum „don't talk back" verurteilt? Bedeutet diese Stummheit nicht Ohnmacht? Ist nicht die Omnipräsenz, mit der man uns beschenkt, die Gegenwart des Unfreien? Und ist nicht der Unfreie, da er eben als nicht-seiend, als Luft, behandelt wird und selbst nichts zu melden haben kann, abwesend?"

Günther AndersAntiquiertheit Bd.1, S.129f.,Kap.  Die Welt als Phantom und Matrize

 

Überblick n. Wikipedia:Anders nimmt an, dass einzelne Phänomene Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftliche Situation zulassen, so z.B. das Fernsehen oder die Atombombe. Im Unterschied zu Edmund Husserl führt er eine Zeitdimension der Phänomene an, die zeigen soll, dass sich ihr Wesen im Laufe der Zeit verändere.

Er geht davon aus, dass dem Menschen eine strukturale historische Wandelbarkeit und eine ontologische Differenz zur Welt eigen sei. Die Identität des Menschen sei also nicht ein für allemal festgelegt (negative Anthropologie), was die Voraussetzung für positive Freiheit und für die Schaffung einer unwandelbaren eigenen Welt bzw. Umwelt, Wissenschaft, Kunst etc. sei.

Technikphilosophie 

Seine Kritik an der Zivilisation in der Mitte des 20. Jahrhunderts setzt am Gefälle zwischen der Unvollkommenheit des Menschen und der immer größer werdenden Perfektion der Maschinen an. Dieses Phänomen nennt Anders prometheisches Gefälle. Hiermit verknüpft er die prometheische Scham, d.h. die von dem Wunsch, selbst wie eine Maschine zu sein, erzeugte Scham des Menschen angesichts der eigenen Unterlegenheit gegenüber seinen technischen Schöpfungen.

Die Diskrepanz zwischen der Leistungsfähigkeit des Menschen und der seiner Geräte werde größer, seit das Werkzeug als Verlängerung und Verbesserung menschlicher Organe durch die Maschine mit ihrer Eigendynamik ersetzt werde; dies sei der Beginn der Antiquiertheit des Menschen gewesen. Das Mensch-Sein – im Grunde das Leben überhaupt – erscheine nun als antiquierte Daseinsform; der Mensch erzeuge Produkte, mit denen er sich selbst überflüssig mache. Das benannte Gefälle zwischen dem, was der Mensch sich vorstellen, und dem, was er herstellen kann, legt eine weitere Bedeutung des Ausdrucks Antiquiertheit des Menschen nahe: Der Mensch ist Anders zufolge in seinen Möglichkeiten des Denkens, des Vorstellens antiquiert, d.h. rückständig gegenüber dem, was er herzustellen imstande ist.

Techniken sieht Anders nicht als wertneutrale Mittel zum Zweck: Durch die Vorgabe der Geräte sei ihre Anwendung bereits festgelegt. Spezifische ökonomische, soziale und politische Verhältnisse produzierten Maschinen, die ihrerseits spezifische ökonomische, soziale und politische Veränderungen nach sich zögen; Technik werde so vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Der Mensch aber könne die strukturelle Macht der Geräte nicht mehr erkennen, Sachzwänge emotional und kognitiv nicht mehr bewältigen und empfinde sich als mangelhaft. Die strukturelle Überlegenheit der Geräte habe sowohl positive Folgen, z.B. Erleichterung der Arbeit, als auch negative, z.B. das Verschwinden der Zielgerichtetheit von Arbeit. Der Mensch sei nurmehr ein für die Wartung zuständiger Objekthirte der Geräte geworden.

Fernsehen

Seine Kulturkritik zeigt sich auch an der Haltung zum Fernsehen. Anders postuliert, dass das Fernsehen über Sachverhalte immer nur einen Teil aussage, nie alles. Dem Menschen als Empfänger der Fernsehinformation wird Objektivität vorgegaukelt, er wird der Urteilsarbeit enthoben, ihm wird die Idee suggeriert, er könne über Abwesendes verfügen, was er als Machtzuwachs empfindet. Die Differenz zwischen Ereignis und Abbild wird laut Anders ausgelöscht, daraus folgt eine strukturelle Täuschung über die Abhängigkeit des Konsumenten von bereits gefällten Urteilen (ontologische Zweideutigkeit).

Es ist demnach gleichgültig, was gezeigt wird, relevant ist lediglich, dass es überhaupt gezeigt wird: Das Fernsehbild gibt vor, das Abbild der Realität zu sein und wird so zum Vorbild für gerade diese Realität. Das führt zu dem Bumerang-Effekt. Der Mensch richtet sich nach dem Abbild der Wirklichkeit, und die Realität wird auf diesem Wege zu diesem verzerrten Abbild. Auf einmal stimmt, was im Fernsehen zu sehen ist: Die Lüge hat sich wahr – gelogen.

Das Fernsehen produziert überdies einen bestimmten Typ des Menschen: den vereinzelten Masseneremiten. Es stellt einen negativen Familientisch dar: Es gibt nunmehr keinen gemeinsamen Mittelpunkt mehr, sondern nur noch einen individuellen Fluchtpunkt.

Atombombe - drei Fragekomplexe:

  • Was für ein Wesen, phänomenologisch betrachtet, ist die Bombe? Welche Maximen lassen sich daraus ableiten, und was bedeutet das für die Weltpolitik?
  • Was bedeutet die Existenz der Bombe und das mit ihr verbundene Vernichtungspotenzial geschichtsphilosophisch für das Selbstverständnis des Menschen?
  • Was hindert die Menschheit daran, die atomare Situation angemessen wahrzunehmen, welchen Verharmlosungsstrategien unterliegt sie, und wie lässt sich dieser Blindheit begegnen?

Nach Anders kann die Bombe in keine Zweck-Mittel-Kategorien eingeordnet werden: Als Mittel ist sie nur einsetzbar, wenn sie nicht eingesetzt wird, also zur Abschreckung; nicht eingesetzt wird sie, wenn jederzeit mit ihrer Einsetzbarkeit gedroht werden kann bzw. gerechnet werden muss, d. h. ihr Da-Sein ist ihr Einsatz. Die Bombe ist außerdem allmächtig: Sie erpresst alle oder keinen. Im Grunde stellt dies eine „Selbsterpressung“ der Menschheit dar. Der menschliche Traum von der Allmacht wird negativ erfüllt: Wir besitzen die Macht, der Welt ein Ende zu bereiten, und sind die Herren der Apokalypse geworden. Durch die Möglichkeit, die Menschheit auszulöschen, ist die derzeitige Epoche die letzte, denn der Einsatz der Bombe bedeutet die Vernichtung von Vergangenheit und Zukunft.

Es besteht eine Differenz zwischen der Menschheit als potentiellem Opfer und der Pluralität von Mächten, die als Täter in Frage kommen. Der Prozess der massenhaften Vernichtung des Menschen gleicht sich immer mehr der arbeitsteiligen industriellen Produktion an: Keiner tut etwas Böses, jeder nur seine überschaubare Arbeit. Dies wird deutlich in seinem Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eartherly. Das Entsetzliche wird dazu noch durch wissenschaftlichen Jargon, Fachbegriffe, Abkürzungen, falsche Vergleiche und Witze verschleiert und ernüchtert. Der Mensch ist unfähig, diese Situation und ihre immanente Gefahr angemessen wahrzunehmen und ihr kognitiv und emotional angemessen zu begegnen.

Moralund Ethik

Die technisch veränderte Welt hat, so Anders, die bisherigen Moralformen liquidiert. Der Anspruch einer neuen Moralität und Humanität bewirkt den Fortbestand der Menschheit. Weder Moral noch Existenz der Gattung Mensch lassen sich Anders zufolge logisch begründen; Humanität hat praktisch zu sein.

Da das Produkt und seine Herstellung auseinandergerissen werden, wirft der moralische Status eines Produktes, beispielsweise Giftgas oder die Wasserstoffbombe, scheinbar keinen Schatten auf die Moral dessen, der arbeitend an dieser Produktion teilnimmt. Der Beteiligte wird somit moralisch entlastet.

Die Aufgabe unserer Epoche ist es, den Menschen der Maschine gegenüber Souveränität zu verleihen und drohende atomare und technisch induzierte ökologische Katastrophen abzuwenden. Er fordert jedoch keine blinde Technikfeindlichkeit, sondern vernünftige Reflexion und daraus folgende, notfalls auch gewalttätige Aktionen.

Der Mensch muss „moralische Phantasie“ ausbilden, also das Gefühl für die Wahrnehmung des „Undenkbaren“ schulen, um Folgen abschätzen zu können und einen universellen hippokratischen Eid ablegen zu können:

keine Arbeiten anzunehmen und durchzuführen, ohne diese zuvor darauf geprüft zu haben, ob sie direkte oder indirekte Vernichtungsarbeiten (sind); die Arbeiten, an denen wir gerade teilnehmen, aufzugeben, wenn diese sich als solche direkten oder indirekten Vernichtungsarbeiten erweisen sollten.[10]

 

Anders -Bibliographie